Takahama Kyoshi und Kawahigashi Hekigotô
Udo Wenzel
Masaoka Shiki (1867-1902) war der Wegbereiter des modernen Haiku. Scharf griff er nicht nur die Haiku-Dichtung seiner Zeit an, er attackierte auch den damals kritiklos verehrten Urvater des Haiku Matsuo Bashô (1644-1694). Aus dem westlichen Realismus übernahm Shiki das Konzept des naturgetreuen Skizzierens (Shasei) und entwickelte einen objektiven, an der Wirklichkeit orientierten Haiku-Stil. Nach seinem Tod gabelte sich dieser Weg. Seine beiden bedeutendsten Schüler, Takahama Kyoshi (1874-1959) und Kawahigashi Hekigotô (1873-1937) gaben dem Japanischen Haiku divergierende Impulse, die bis heute nachwirken. Hekigotô setzte die Reformen Shikis weiter fort, Kyoshi belebte das traditionelle Haiku aufs Neue.
Kawahigashi Hekigotôs Neue Richtung
omowazu mo hiyoko umarenu fuyubara
Ganz unerwartet
war das Küken geboren.
Eine Winterrose. (1)
Hekigotô schloss sich 1893 gemeinsam mit seinem Freund und späteren Rivalen Kyoshi der Reformbewegung Shikis an. Er wurde von diesem wegen seiner realistischen und objektiven Verse geschätzt. Nach Shikis Tod betreute er dessen Haiku-Spalte in der Zeitung Nihon und veröffentlichte vier Jahre später eine erste Anthologie (Zoka shunkashûtô).
Ab 1908 nannte Hekigotô seine Schule „Neue-Richtungs-Bewegung“ (shin keikô undô). Nach Otsuji (1881-1920) erweiterte Hekigotô nun das streng an Objektivität ausgerichtete Konzept des Shasei, und seine Verse zeichneten sich durch „Feierlichkeit, Implikation und Tiefe“ aus. Das oben zitierte Haiku sei dafür beispielhaft. Hekigotô stimmte Otsuji zu, der das naturgetreue Skizzieren nur für Anfänger geeignet hielt. Otsuji vertrat die Ansicht, dass das Haiku einen „metaphorischen“ oder „suggestiven“ Stil entwickeln müsse, um die „wahren“ Eigenschaften eines Objekts und subtile Gefühle mitteilen zu können. (Reck, Seite 59). Doch Hekigotô ging über Otsuji hinaus. Sein erklärtes Ziel war es, dem „wirklichen Leben“ näherzukommen und „wirkliche Gefühle“ (jikken) auszudrücken (Reck, Seite 61). Deshalb schrieb er erste freie Verse ohne festes Silbenschema und gab 1909 auch die konventionelle Jahreszeitenbindung auf. Die Haiku-Dichtung solle sich nicht an Stilen orientieren, wesentlich sei stattdessen „eine tiefe Verbindung mit dem Universum“ (zitiert nach Reck, Seite 61).
Hekigotô bereiste das ganze Land. Seine Bewegung gewann großen Einfluss in der japanischen Haiku-Welt. Aber als Kyoshi 1913 nach einer Zeit des Rückzugs wieder zur Haiku-Dichtung zurückkehrte, wurde die Bedeutung Hekigotôs und seiner Schule zurückgedrängt. An seinem 60. Geburtstag gab er das Haiku-Schreiben auf. Er starb im Alter von 65 Jahren an Typhus.
akai tsubaki shiroi tsubaki to ochinikeri
Die Blüten der roten,
der weißen Kamelie:
sie fallen beide. (2)
Takahama Kyoshi: Erhalte das Alte
Kumo ni are ami o kakeneba naranu-kana
Als Spinne geboren
bleibt ihr nur eines: weben
am Spinnennetz. (3)
Takahama Kyoshi war seit 1898 Redakteur bei der Literaturzeitschrift Hototogisu (4), nach Shikis Tod übernahm er dessen Position des Chefredakteurs (und verblieb darin für beinahe 50 Jahre). Kyoshi zog sich 1907 bis 1912 von der Haiku-Bühne zurück und schrieb Romane. In Hototogisu veröffentlichte er nun auch Prosa im Shasei-Stil (shasei-bun), auch bedeutende Schriftsteller wie beispielsweise Natsume Sôseki veröffentlichten in ihr. Die Zeitschrift blühte auf.
Kyoshis Ablehnung des Haiku-Stils von Hekigotô und seiner Neue-Richtungs-Bewegung motivierte ihn 1913 sich mit ganzer Kraft für ein anderes Haiku zu engagieren. Er initiierte eine Gegenbewegung, der er den konservativ-programmatischen Namen „Erhalte-das-Alte-Gruppe“ (Shukyû-ha) gab. Kyoshi kritisierte Hekigotô sowohl wegen seiner Preisgabe des Silbenschemas und Abkehr vom traditionellen Kigo-Konzept als auch wegen seiner anfänglichen Idealisierung des objektiven Shasei-Stils. Er war der Ansicht, dies führe insgesamt zu einer Verflachung der Haiku-Dichtung. Zwar sei eine Orientierung am naturgetreuen Skizzieren nicht unwichtig, aber wesentlicher sei es, Verse zu schreiben, die von Harmonie (onchô) und Phantasie (kusô) geprägt sind. Die Haiku-Dichtung vor Shiki zeichnete sich durch einen großen Anspielungsreichtum aus. Durch den strikten Gegenwartsbezug des naturgetreuen Skizzierens werde diese Verbindung zu früherer Literatur vernachlässigt (Reck, Seite 52 f.). Kyoshi teilte Shikis Ablehnung der Kettendichtung (Renga) ebensowenig wie dessen Kritik an Bashô. Im Gegenteil, er schätzte Bashô sehr und leitete eine Renaissance der Kettendichtung ein.
Nicht zuletzt aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Chefredakteur von Hototogisu wurde er um vieles einflussreicher als Hekigotô. Seine neo-traditionalistische Schule dominierte die Haiku-Dichtung für lange Zeit und hielt sowohl am Silbenschema als auch an der traditionellen Vorstellung des Jahreszeitenwortes fest. Kyoshi nannte sein Konzept kachô fûei (5). Die Natur sollte nicht einfach objektiv beobachtet, sondern bewundert und verehrt werden. Ein Haiku habe die Harmonie und Verbindung zwischen Mensch und Natur auf poetische Weise zu thematisieren. Die Gedanken oder Ideologien des Autors werden nicht direkt ausgesprochen, aber sie müssen metaphorisch durch die Auswahl des Objektes oder des Jahreszeitenwortes enthalten sein. Seine konservative Haltung brachte ihm den Vorwurf ein, dass er hinter Shiki zurückfalle. Dies änderte nichts an seiner Wirkung auf die japanische Haiku-Welt. Häufig wird er wegen dieser mit Matsuo Bashô verglichen. Kyoshi starb 86-jährig und hinterließ circa 200.000 Haiku.
Schlussbemerkung
Der beachtliche Einfluss Kyoshis zeigt sich heute noch an der weiten Verbreitung des traditionellen Haiku in Japan. Seiner Schule entwuchsen viele wichtige Dichter, es sei hier nur Mizuhara Shuôshi (1892-1981) erwähnt. Aus Hekigotôs Bewegung entwickelte sich die freie Form des Haiku. Bedeutende Haiku-Dichter wie Ippekiro Nakatsuka (1887-1946), Ogiwara Seisensui (1884-1976), Hôsai Ôzaki (1885-1926) und vor allem Taneda Santôka (1882-1940), der zu den meistgelesenen Haiku-Autoren in Japan gehört, entstammen dieser Linie. Das zeitgenössische japanische Haiku (gendai) 6, das außerhalb Japans weniger bekannt ist, hat hier eine seiner Wurzeln. Bei diesem finden sich freilich unterschiedliche poetische Positionen. Manche halten am 5-7-5 Muster fest, andere lediglich am Jahreszeitenwort, wieder andere lehnen beides ab. Auf die literarische Qualität des jeweiligen Haiku haben diese Entscheidungen letztlich keinen Einfluss.
Im deutschsprachigen Raum wird das moderne Japanische Haiku nur wenig wahrgenommen. Bisher herrscht großteils eine restringierte Rezeptionsweise vor, die ein konservatives Haiku-Bild gefördert hat. In den letzten Jahren wurde mit der Veröffentlichung der kommentierten Übersetzungen Bashôs, Busons und Issas von Geza S. Dombrady und den Shômon-Bänden von Ekkehard May mit ihren ausführlichen Kommentierungen ein wichtiger Schritt zu einem besseren Verständnis der Gattung getan. Doch stellen diese Bücher ausschließlich Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts vor. Bezogen auf moderne Haiku nach Shiki ist hierzulande leider nur noch der Band „Santôka – Haiku, Wandern, Sake“ des Japanologen Robert F. Wittkamp erhältlich. (6) Dieser ist, auch in seiner Übersetzungsleistung, vorbildhaft für eine adäquate Haiku-Rezeption. Eine vergleichbare Darstellung weiterer zeitgenössischer Haiku-Autoren Japans steht noch aus. (7)
Toki mono o kaiketsu suru ya haru o matsu
Möge die Zeit lösen
Sorgen und Nöte –
warten auf den Frühling (8)
Anmerkungen
1 von Hekigotô, aus Reck 1968, Seite 59.
2 von Hekigotô, aus Satô Kazuo 1990, Seite 180.
3 von Kyoshi, aus: Inahato Teiko, 2005. Übersetzung aus dem Englischen vom Verfasser.
4 hototogisu heißt Kuckuck, eine andere Bezeichnung für Kuckuck ist shiki. Hototogisu wurde von Yanagihara Kyuokudô (1867-1957), einem Anhänger Shikis, gegründet.
5 kachô: Blumen und Vögel, fûei: ein Gedicht schreiben.
6 1990 erschien die Haiku-Anthologie „Treibeis“, die einen Querschnitt zeitgenössischer Haiku aus Hokkaidô vorstellt. Das Buch ist leider vergriffen.
7 In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf den Aufsatz „Vom Verschwinden der Schwalbe“ von Mario Fitterer, in dem (auch) ein Überblick über zeitgenössische japanische Haiku gegeben wird.
8 von Kyoshi, aus: Inahato Teiko, in Vorbereitung. Übersetzung aus dem Englischen vom Verfasser.
Literaturhinweise
Mario Fitterer: Das Verschwinden der Schwalbe. Aspekte moderner deutschsprachiger Haiku. In: Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft, Nummer 67, 2005, Seite 5-24.
Inahata Teiko: The World of Kyoshi. In: Simply Haiku: A Quarterly Journal of Japanese Short Form Poetry, Summer 2005, Volume 3, Number 2. www.simplyhaiku.com
Inahata Teiko: Hundred Haiku of Kyoshi. In Vorbereitung. Ausschnitte auf der Website des Kyoshi Memorial Museum: http://www.kyoshi.or.jp/work/e-work.htm
Michael Reck: Masaoka Shiki und seine Haiku-Dichtung. Inaugural-Dissertation. München, 1968.
Satô Kazuo: „Heiter, liebenswürdig, spontan“. In: Siegfried Schaarschmidt und Michiko Mae (Hg.). Japanische Literatur der Gegenwart, Seite 180 ff. München/Wien: Hanser, 1990.
Treibeis. Haiku in Geschichte und Gegenwart auf Hokkaidô Japan. Herausgegeben von Hachirô Sakanishi. Thalwil (Schweiz): Adonia-Verlag, 1990.
Robert F. Wittkamp: Santôka. Haiku, Wandern, Sake. Tôkyô: Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, OAG Taschenbuch Nr. 66, 1996 (erhältlich beim iudicium Verlag, München (www.iudicium.de))
Ersteinstellung: 10.06.2005