Udo Wenzel
Meine These: Reflexive Äußerungen, ein lyrisches Ich und Metaphern passen unter bestimmten Umständen ins Haiku. Von ihrer Verwendung hängt nicht ab, ob man von Gedankenlyrik sprechen kann oder nicht.
In der lyrischen Theorie unterscheidet man die Gedankenlyrik von der Erlebnislyrik. Gedankenlyrik bezeichnet eine reflektierende Lyrik, die gedankliche oder gar weltanschauliche Zusammenhänge thematisiert. Die Gedichte sind für die Gedanken da, nicht umgekehrt. Sie resultieren nicht aus einer Empfindung oder einem Erlebnis des Autors. Zur Gattung der Gedankenlyrik wird beispielsweise das Epigramm gezählt:
„Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren.“ (Goethe, Epigrammatisch)
Hier wird lediglich ein Gedanke dichterisch gestaltet.
Dagegen gestaltet Erlebnislyrik persönlich-subjektive Erlebnisse eines Autors. Individuelle Gefühle werden unmittelbar in Worte umgesetzt, unverstellt durch nachträgliche Reflexion. Ihre Entstehung wird in der Sturm-und-Drang-Zeit angesiedelt. Einer ihrer ersten Verfechter war ebenfalls Goethe, der das spontan herausbrechende, in einem Zug heruntergeschriebene Gedicht emphatisch erhöht.
Auch wenn es im Einzelfall problematisch sein kann, scheint mir es doch relativ einfach, das Haiku von der Gedankenlyrik abzugrenzen, wenn man diesen Definitionen folgt. Es kann zwar Reflexives enthalten, z.b. eine Frage, aber es geht in ihm nicht darum, gedankliche oder weltanschauliche Zusammenhänge zu thematisieren. Das Haiku ist am konkreten Bild ausgerichtet. Dieses kann auch einen Gedanken des Autors enthalten, aber verbleibt im Augenblick:
In Kyoto bin ich –
Beim Schrei des Kuckucks sehne
Ich mich nach Kyoto.
Basho (1644-1694)
Hielte ich ihn fest,
bliebe nichts in meiner Hand –
zarter Schmetterling!
Buson (1716-1783)
Kann das Haiku umstandslos als Erlebnislyrik bezeichnet werden?
Grundsätzlich entsteht nach meiner Auffassung ein Haiku aufgrund eines Erlebnisses, das den Autor berührt. Es kann, aber muss nicht (und ist es wahrscheinlich in den meisten Fällen nicht) wie in Goethes Diktum in einem Zug geschrieben werden. Möglicherweise enthält der fertige Text ein etwas anderes Bild als das tatsächlich Erlebte oder ist keine eigene Erfahrung des Autors, sondern entsteht aus Mitgeteiltem, aus Erzählungen anderer Personen, die den Autor berührt haben. Möglicherweise werden vom Autor auch verschiedene Erlebnisse in einem neuen verdichteten Bild zusammengefasst. Der Der Professor für japanische Literatur (Columbia University, N.Y.) Haruo Shirane weist darauf hin, dass das im Westen oft als typisch japanisch angesehene realistische dichterische Bild erst seit Shiki (1867-1902) das Haiku wesentlich geprägt hat. Shiki selbst war aber stark vom westlichen Realismus beeinflusst.
Basho oder Buson hätten auf die Frage, ob ihre Texte immer auf ihren eigenen authentischen Erlebnissen beruhen, mit Verwunderung reagiert. Dies war keine Forderung der Dichtung ihrer Zeit. Busons berühmtes Kamm-Haiku beispielsweise
Wie es mich durchfuhr!
Im Schlafraum trat ich auf den Kamm
meiner verstorbenen Frau
entstand zu einer Zeit, als er noch verheiratet war. Seine Frau überlebte ihn um 31 Jahre.
Gottfried Benns Einwand gegen Goethe, dass Lyrik eine mühsame Arbeit mit Worten und ihren Bedeutungen ist, ist so wahr wie unromantisch und gilt auch für das Haiku. Wie man heute weiß, haben die japanischen Haiku-Autoren sowohl in kleinen Zirkeln als auch noch Jahre danach immer wieder an ihren Texten gearbeitet, sie geändert und verfeinert, um eine stärkere Wirkung zu erzeugen. Teilweise entfalteten sie erst dadurch ihre volle Kraft. (Natürlich gibt es auch immer wieder den „vollendeten Text von Anfang“ an, dem jede Verfeinerung nur seine ursprüngliche Kraft rauben würde.) Oft sind absichtsvoll Bezüge zu früheren Texten anderer Autoren enthalten. Sie sind mehr als reine Erlebnislyrik.
Diesen Prozess der Verfeinerung stelle ich mir nicht als reine Verstandestätigkeit vor, er ist kein „kaltes Kalkül“, sondern ein Werk der lyrischen Vernunft des Autors. In diese fließen Sprachgefühl, seine Fähigkeit zur Selektion, seine Wahrnehmungsfähigkeit, sein kultureller und gesellschaftlicher Hintergrund, sein intellektuelles und literarisches Wissen und andere Vermögen ein.
Die Spuren der Herstellung des Textes bleiben gewöhnlich unsichtbar. Sie müssen zurückstehen, ja verschwinden, sonst würden sie die Möglichkeit des direkten Eintretens ins Bild (haiku-flash) verhindern, das für das Haiku wesentlich ist. Dem fertigen Text sieht man weder die Arbeit noch die Absicht, die in ihm steckt, unmittelbar an. In erster Linie wirkt er. Zentral für das Haiku bleibt das konkrete Bild. Der Autor kann darin aufgehoben sein, er kann Teil des Bildes sein, aber er darf sich nicht von außen „einmischen“.
Auch Metaphern im Haiku sind dann problematisch, wenn sie sich vor das Bild stellen, es verstellen. Oder wenn von vornherein klar ist, dass der Text aus einem Gedanken, aus einer Vorstellung oder einem Ideologem entsprungen ist, das durch die Metapher nur illustriert werden soll. Der Gedanke muss dem Text dienen, nicht umgekehrt! Viele Haiku enthalten keine expliziten Metaphern, aber können im Ganzen als subtile Metapher gelesen werden. Bashos Krähen-Haiku beispielsweise ist eine Metapher des Alterns:
Auf dem dürren Ast
hockt eine Krähe
Herbstabend.
Basho
Der Text bleibt konzentriert auf das Naturbild. Metaphern im Haiku lösen sich nicht in abwegiger Weise von der Wirklichkeit.
Alle an das Haiku gestellte Forderungen (keine Gedankenlyrik, frei von Reflexion und Metaphern etc.) sollten meines Erachtens nicht als Dogma oder unumstößliche Regel gesehen werden, sondern dienen letztendlich nur dem einen Zweck: Das Haiku freihalten von Verstellungen, um einen möglichst offenen Zugang in den Assoziationsraum zu ermöglichen. Vom kulturellen, ästhetischen, literarischen etc. Vorwissen des Lesers hängt es ab, wie tief oder weit dieser Assoziationsraum erschlossen werden kann.
Literatur
Ekkehard May, Shomon I und II, Mainz, 2000 und 2003
Jane Reichhold, Writing and Enjoying Haiku. A Hand-on Guide, Japan, 2002
Auszüge im Web unter: http://www.ahapoetry.com/haiku.htm und
http://thejapanpage.com/html/book_directory/Detailed/532.shtml
Haruo Shirane, Beyond the Haiku Moment
http://www.lowplaces.net/beyond_the_haiku_moment.html
Haruo Shirane, Haiku East and West: Basho and Cultural Memory
http://www.columbia.edu/cu/ccba/cear/issues/fall99/text-only/shirane.htm
Ersteinstellung: 17.10.2003