Mainichi Daily News: Die besten Haiku 2005

Udo Wenzel

 

Die renommierte japanische Tageszeitung Mainichi Daily News hat auf ihrer Website die Auswahl der besten englischsprachigen Haiku des Jahres 2005 veröffentlicht. Auf der Auswahlliste befinden sich auch zwei Haiku von deutschen Autoren. Hubertus Thum erreichte mit einem seiner Haiku einen 3. Preis; ein Haiku der vor kurzem verstorbenen Marita Schrader wird ehrend erwähnt.

Das Haiku, das den ersten Preis erhielt, stammt von dem bis dahin unbekannten Autor Tyler Pruet aus Augusta (Maine) in den USA; es war seine erste Einsendung bei Mainichi Daily überhaupt:

Moon
pulls my truck
down the road

Der Mond
zieht meinen Truck
die Straße hinab

Es gäbe keine Notwendigkeit, diese „perfekte Einfachheit“ zu verändern, so der Preisrichter in seiner Begründung. Durch die Personifikation empfinde man unbewusst die mystische Kraft des Mondes.

Eine gute Wahl, die zeigt, dass „subjektive“ Elemente oder Personifikationen im Haiku durchaus verwendet werden können, insofern sie originell sind, darin aber schlicht formuliert bleiben und unser Unbewusstes auf stille Art anzurühren verstehen. Es erscheint mir sogar fraglich, ob der Mond hier noch als Jahreszeitenwort für den Herbst zu verstehen ist, da der erlebte Augenblick ganz unabhängig von einer Zeit der Mondschau wirkt. Der Mond wird aus einem ritualisierten Kontext zurück „transportiert“ in den Arbeitsalltag eines einfachen Fernlastfahrers.

Interessanterweise hat Mainichi Daily News dieses Jahr auf eine Unterteilung in zwei Wettbewerbs-Kategorien ( 5-7-5 Haiku und freiformatige Haiku ) verzichtet, weil die Anzahl der 5-7-5 Haiku nur noch ein Zehntel der insgesamt eingesandten Haiku betrug. Es war, so der Preisrichter, schwierig aus jenen wenigen Einsendungen gute Haiku zu selektieren, dagegen gab es viele exzellente Haiku in freiem Format:

„Obgleich man nicht mit Sicherheit den genauen Grund für diesen Boom des freien Stils kennt, ist es vermutlich korrekt festzustellen, dass Haiku-Schreiber in der ganzen Welt Haiku … ohne jede Einschränkung schreiben möchten.“ Die ausgewählten Gedichte dieses Jahres sind ausschließlich Haiku im freien Format, obwohl der Preisrichter früher selbst in der Form 5-7-5 geschrieben hat.

Er zitiert zum Thema 5-7-5 einige namhafte englischsprachige Haiku-Autoren, die ich hier auszugsweise wiedergebe:

„Englische Silben und japanische Silben sind unterschiedlich. Würde ich meine Haiku in 5-7-5 Silben schreiben, wären meine Haiku viel länger als japanische Haiku.“ (Randy Brooks)

„5-7-5 kann allzu sehr mit Worten überladen klingen oder es sagt im Englischen zu viel. Ich würde mir eher vom Haiku „erzählen“ lassen, wie viele Wörter es braucht!“ (David Cobb)

„5-7-5 in englischer Sprache ist nicht sinnvoll. Siebzehn Silben in Englisch haben ungefähr eine 60 Prozent längere Sprechdauer.“ (William J. Higginson)

„Ich denke, der Geist des Haiku ist viel wichtiger als seine Form. Was ist wichtiger, der Blick durch das Fenster oder der Fensterrahmen?“ (Paul Miller)

„Sofern 5-7-5 nicht selbstverständlich auftritt, richtet es mehr Schaden an als dass es Gutes tut.“ (Alan Pizzarelli)

„Manchmal haben Haiku gerade 17 Silben, weil ich sie nicht ohne Verlust ihres Gehalts kürzen kann.“ (George Swede)

„5-7- 5 wirkt oft wie ausgestopft, um eben 17 Silben zu erreichen. Die Form des Haiku sollte eine Erweiterung seines Inhalts sein. Jedes Gedicht hat seine eigene beste Form.“ (Cor van den Heuvel)

 

Alle ausgewählten Haiku siehe unter
http://mdn.mainichi-msn.co.jp/entertainment/etc/haiku/archive/2006/selection2005.html

[August 2018 nicht mehr aktiv.]

 

Ersteinstellung: 10.04.2006