Wo Fäden sich kreuzen

Haiku zwischen Ost und West
Annika Reich im Gespräch mit Udo Wenzel

 

Udo Wenzel: Während der Recherche für einen Artikel, der die Unterschiede zwischen Haiku und Lyrik erkunden möchte, entdeckte ich Ihre Monographie „Was ist Haiku?“ (1) , eine sozial-anthropologische Studie über die Haiku-Dichtung. Ich dachte zunächst, dass meine Recherche auf dieselbe Frage hinauslaufen müsste, die im Titel Ihrer Veröffentlichung gestellt wird, nämlich herauszuarbeiten, was das Haiku „eigentlich“ ist. In Ihrem Buch zeigen Sie, dass es eine eindeutige Antwort gar nicht geben kann. Woran liegt das?

Annika Reich: Das liegt daran, dass Haiku in unterschiedlichen Sprachspielen Unterschiedliches bedeutet. Je nachdem, was für ein Interesse mit dem Haiku-Dichten verbunden ist, ändert sich die Bedeutung des Begriffs. Für viele Japaner ist Haiku ein Hobby, dem sie in Volkshochschulen nachgehen, für andere wiederum ist es ein hoch aufgeladenes Kulturgut der japanischen Nation, für wieder andere ist es einfach nur ein Kurzgedicht, oder (v.a. in den USA) ist es ein Ausdruck des Zen etc. Für jedes dieser Sprachspiele wiederum scheint zu gelten, dass nur diese eine Bedeutung gilt. Wenn man sich das ganze  Bedeutungsspektrum ansieht, dann erkennt man, dass es an den strategischen Hintergründen liegt, was Haiku wann bedeutet.

 

Udo Wenzel: Ihre Monographie entstand aus einer Forschungsarbeit am Institut für Ethnologie in Berlin. Dafür reisten sie 1997 auch nach Japan und führten eine Reihe von Gesprächen mit Haiku-Dichtern verschiedener Haiku-Gruppen und Haiku-Experten. Wie kam es dazu, wie entstanden die Kontakte? Und wie kamen Sie als Ethnologin und Philosophin überhaupt auf das Thema Haiku?

Annika Reich: Ich kam eher zufällig auf das Thema Haiku, weil mir eine Freundin mal ein Buch mit Bashôs Haiku schenkte, die mich befremdeten und begeisterten. Ich arbeitete auch zu dieser Zeit schon neben meinem Studium an literarischen Texten und beschäftigte mich da vor allem mit Kurzprosa. Mein ethnologisches Interesse an Haiku entstammte neben der literarischen Irritation einer Faszination für Japan, die sich aus der Beschäftigung mit japanischer Ästhetik ergeben hatte. Die Kontakte entstanden Schritt für Schritt, nachdem ich in Tôkyô im Haiku-Museum um ein Interview mit Prof. Satô gebeten hatte und mir dieses auch nach einer Weile gewährt wurde. Ich ging dann zu Volkshochschulen und lauerte den berühmten Meistern einfach auf und bat um Interviewtermine. Außerdem fragte ich überall herum. Und da es ein Kuriosum war, dass sich eine junge Deutsche für Haiku interessierte, wurde ich nach einer Weile „herumgereicht“ und bekam so Interviews mit fast allen berühmten Haiku-Dichtern Japans. Ich versuchte aber auch, Menschen zu interviewen, die Haiku als Hobby machten oder Haiku-Fotografie betrieben

 

Udo Wenzel: Unter anderem wurde mit Ihnen schließlich auch ein Radio-Interview im japanischen Rundfunk geführt. Sie schildern, dass es im Vorfeld einige Aufregung gab, weil man fürchtete, sie könnten etwas Negatives über Haiku sagen. Haben Sie dann etwas „Negatives“ geäußert – und wie waren die Reaktionen auf das Interview?

Annika Reich:  Das Seltsame war, dass Prof. Satô vom Haiku-Museum mich zu dem Interview geladen hatte und er ja gerade an meiner kritischen Haiku-Perspektive interessiert war. Als es aber dann daran ging, diese kritische Haltung nach außen zu tragen, war er vollkommen konsterniert. Ich hatte mich in dem Interview nur auf die Beobachtungen zu beschränken, die kompatibel mit jedweder gängigen Meinung war. Sie wollten eher so etwas hören, wie erstaunlich ich es doch fände, dass in Japan Millionen Menschen Haiku dichten und nicht, dass ich dachte, Haiku sei kulturell nationalistisch. Ich habe dann einen Mittelweg gewählt und so viel zwischen den Zeilen und in Andeutungen durchscheinen lassen, wie vertretbar war, um Prof. Satô bei dem staatlichen Radiosender nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Ob diese Nuancen dann allerdings in der Übersetzung gänzlich wegfielen, konnte ich nicht beurteilen.

 

Udo Wenzel: Itô Yûki, ein Doktorand an der Universität von Kumamoto, veröffentlichte vor kurzem eine Monographie in englischer Sprache (2) über die Verfolgung von Haiku-Dichtern im ultranationalistischen Japan der 1940er Jahre. Er beschreibt, wie Haiku-Dichter, die sich nicht an die „traditionellen“ Regeln (5-7-5 Moren, kigo) hielten, verfolgt, inhaftiert und gefoltert wurden. Ihre Zeitschriften wurden verboten und die Dichter gezwungen zu „konvertieren“, bzw. „traditionelle“ Haiku zu schreiben. Als Hauptverantwortlicher wurde nach dem Krieg der Präsident der Haiku-Abteilung der „Patriotischen Gesellschaft für Japanische Literatur“, Takahama Kyoshi, angesehen. Dieser war bereits seit 1920 Herausgeber der einflussreichsten japanischen Haiku-Zeitschrift Hototogisu und Leiter der Haiku-Schule gleichen Namens.

Sie beschreiben das Haiku als Trägermedium eines nationalistischen Diskurses. Was verstehen Sie darunter und sehen Sie einen Zusammenhang zu den Repressionen während des Faschismus?

Annika Reich: Haiku war und ist Teil eines nationalistischen Diskurses, der auch Japandiskurs (nihonjinron) genannt wird, und der die Strategie verfolgt, die japanische Nation als einzigartig darzustellen und gegen andere asiatische Nationen, und gegen den Westen (v.a. die USA) abzugrenzen. Grundzüge dieses Diskurses sind die Erfindung eines spezifischen japanischen Wesens, einer bestimmten, nicht vermittelbaren japanischen Sensibilität für die Natur und einer bestimmten japanischen Tradition. Zudem ist Haiku durch seinen starken jahreszeitlichen Bezug ein wichtiges Medium, um das ‚Jahreszeitenspiel‘ zu perpetuieren, da es die Nation diszipliniert und eint. In vielen der in diesem Diskurs aufgerufenen Symbole wird an alte Symbole des faschistischen Systems angeschlossen. Über den konkreten Zusammenhang von Haiku und den Repressionen des Faschismus kenne ich mich nicht aus und habe in meiner Forschung auch keine Studien darüber gefunden. Die nun neu erscheinende Studie erwarte ich deswegen mit großem Interesse.

 

Udo Wenzel: Inwiefern arbeitet man im „Westen“ an der Herstellung dieses nationalistischen und teilweise rassistischen Bildes mit?

Annika Reich: Japan hat von Anfang an an dem Besatzungstext mitgeschrieben, der die japanische Nation nach dem zweiten Weltkrieg geprägt hat. Dabei hatten die Besatzungsmächte Interesse daran, die Japaner als rückständig und ‚ganz anders‘ zu bezeichnen, um sich selbst zu identifizieren, und die Japaner hatten Interesse daran, sich selbst zu orientalisieren, indem sie ihre Andersartigkeit unterstrichen und neu erfanden. In dem ganzen Feld herrscht das „Wir/nicht-Wir“ Prinzip – und zwar auf beiden Seiten.

 

Udo Wenzel: Dabei ist ganz besonders die Verbindung zwischen Haiku und Zen interessant. In Ihrer Monographie zeigen Sie, dass auf den Zusammenhang zwischen beiden in erster Linie in den Vereinigten Staaten und Europa Wert gelegt wird. Haiku wird hier häufig auch als literarischer Ausdruck des Zen betrachtet.  Aber die meisten japanischen Haiku-Dichter und –Experten weisen diese Verbindung zurück. Wie kommt es, dass sich das Bild dennoch so lange hält?

Annika Reich: Zen ist ein gutes Beispiel für das oben beschriebene Wechselspiel. Denn Zen wurde von Suzuki Daisetz mit Haiku in Zusammenhang gebracht. Suzuki war allerdings selbst Zen-Mönch und hat diesen Zusammenhang mehr behauptet als abgeleitet und im Rahmen der nationalistischen Kyôto-Schule zahlreiche Bücher über Zen und die japanische Kultur geschrieben, die in den USA vor allem großen Anklang fanden, weil sie dort auf eine Sehnsucht nach alternativen Lebensformen trafen. Der amerikanische Haiku-Forscher Blyth perpetuierte dann diese Vereinnahmung von Haiku durch Zen. Dadurch, dass Zen dann in den USA mehr und mehr in Mode kam und die ganze japanische Kultur mit Zen in Verbindung gebracht wurde (was Japaner mehr als verwundert), hielt sich dieser Mythos und ist bis heute präsent. Die Haiku-Dichter, die ich in Japan interviewt hatte, waren über die Zen-Affinität ihrer amerikanischen Kollegen eher belustigt und spielten aber mit. Als ich dann aber sagte, dass ich die Vermutung habe, Zen habe mit Haiku nicht mehr zu tun, als der Benediktinerorden mit einem deutschen Lyriker, stimmten dem alle Interviewpartner (bis auf die der Kyôto-Schule) zu.

 

Udo Wenzel: Sie sind im Zuge Ihrer Recherchen auch auf die Deutsche Haiku-Gesellschaft zugegangen. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Annika Reich: Sehr gemischte, muss ich sagen. Vor meiner Reise wurde mir sehr geholfen, man verschaffte mir Kontakte mit in Japan lebenden deutschen Haiku-Dichtern, versorgte mich mit Material und ermutigte mich. Nach der Reise und vor allem, als ich dann die groß angelegten Haiku-Veranstaltungen im Haus der Kulturen der Welt organisierte, bekam ich ziemlich viele enttäuschte und negative Reaktionen, dass ich in Eigenregie handelte und nicht um Rat fragte oder um Mithilfe bat. Da aber eines der Anliegen der Veranstaltungen (auch des Haiku-Wettbewerbs im Berliner Tagesspiegel) war, dem 5-7-5 Silben Mythos im deutschen Haiku entgegenzutreten, wären wir sowieso nicht auf einen grünen Zweig gekommen.

 

Udo Wenzel: Was halten Sie von dem Versuch, das oben erwähnte ‚Jahreszeitenspiel’ auch hierzulande zu eröffnen, indem ein Saijiki (Jahreszeitenwörterbuch) für den deutschen Sprachraum angelegt wird?

Annika Reich:  Solange Jahreszeitenwörterbücher nicht Teil eines kulturell nationalistischen Diskurses sind, so wie in Japan, kann man das machen. Wenn diese Art Wörterbuch wie in Japan volkstümelnd und traditionalistisch angelegt ist, fände ich es schwierig.

 

Udo Wenzel: Was denken Sie, welchen Beitrag kann man als deutsche Haiku-Dichterin, als deutscher Haiku-Dichter leisten, um an der Auflösung dieses Dispositivs eines kulturellen Nationalismus mitzuwirken?

Annika Reich:  Ich denke, dass wir hier erst einmal von der 5-7-5 Silben Regel weg müssen, da unsere Silben nicht gleich der japanischen Moren sind und der Rhythmus dadurch nicht der richtige ist. Ich denke, dass das deutsche Haiku eine emanzipierte, moderne Form annehmen sollte, die in der deutschen Sprache einen Sprachrhythmus und eine Sprachmelodie produziert, die der japanischen Form ebenbürtig ist. In Japan wurde mir wiederholt erzählt, dass diese Form bewusst falsch weiter getragen würde, damit Ausländer keine guten Haiku machen könnten. Wenn die deutschen also eine eigene Form finden würden, dann würde Haiku nicht als Medium in dem orientalisierend-okzidentalisierenden Machtspiel herhalten müssen.

 

Udo Wenzel: Im deutschen Sprachraum gibt es seit einigen Jahren einen starken Trend, das Silbenzählen ganz bleiben zu lassen und es werden auch ein-, zwei- oder vierzeilige Haiku geschrieben. Ebenso bewegen sich viele Haiku-Dichter auch immer wieder einmal jenseits der traditionellen Natur- und Jahreszeitenthemen. Halten Sie diese Auflösung der „strengen Form“ für einen gangbaren Weg, oder plädieren Sie für eine alternative „Silbenregel“ bzw. andere „Formalien“?

Annika Reich:  Da bin ich hin- und hergerissen. Eine strenge Form hat viele Vorteile. Neben der klaren Ästhetik bietet sie Einsteigern eine Orientierung und anderen die Möglichkeit mit der Form zu spielen. Andererseits wäre es in Deutschland sehr schwer, irgendeine Form festzulegen, weil die Tradition fehlt und irgendeine Instititution irgendeine Form setzen müßte. Nur: wer sollte sich daran halten und warum? Also das Problem der Autorität und der Durchsetzungskraft. Man könnte es machen wie im gegenwärtigen Japan, nur dass die starke Hintergrundstimme der Tradition fehlte: jede größere Gruppe legt für sich eine Form fest. Und die Meisterschaft bestünde im Beherrschen und im Brechen.

 

Udo Wenzel: 2003 legten Sie mit der Erzählung „Teflon“ (3), die im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde, Ihr Prosadebüt vor. Zurzeit arbeiten Sie an einem Roman. Hat das Haiku als Gattung Ihre literarische Arbeit beeinflusst?

Annika Reich: In meinem jetzigen Roman kommen zwei Haiku vor und ein Teil der Handlung spielt in Japan. Außerdem habe ich eine größere Aufmerksamkeit für Satzzeichen aus meiner Arbeit mit Haiku gewonnen. Aber da ich mich ja vor allem mit dem ethnologischen Hintergrund von Haiku auseinandergesetzt habe und nicht selbst Haiku gedichtet habe, ist der Einfluss nicht so groß wie man denken könnte.

 

Udo Wenzel:  Ich bin sehr gespannt auf den Roman. Viel Erfolg dafür, und vielen Dank für das Gespräch!

Anmerkungen

(1) Annika Reich: Was ist Haiku? Zur Konstruktion der japanischen Nation zwischen Orient und Okzident. Reihe: Spektrum. Berliner Reihe zu Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in Entwicklungsländern, Bd. 73. Lit-Verlag, Hamburg 2000.

(2) Die Monographie „New Rising Haiku: The Evolution of Modern Japanese Haiku and the Haiku Persecution Incident“ (USA: Red Moon Press, ISBN 978-1-893959-64-4) erschien Mitte November auf Simply Haiku, die deutsche Übersetzung „Das Neue Haiku. Die Entwicklung des modernen japanischen Haiku und das Phänomen der Haiku-Verfolgungen“ Mitte Dezember 2007 auf „Haiku heute“ und in der Dezember-Ausgabe 2007 von „Sommergras“, der Vierteljahreszeitschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft.

(3) Annika Reich: Teflon. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.

 

Ersteinstellung: 15.12.2007