Noch so hell
so spät.
Die Amsel singt.
Ulrike Hoffmann
Bei diesem Haiku schwankte ich zunächst, ob nicht das erste „so“ entfallen könne, meinte aber schnell, dass dann nicht nur die Melodie des Textes verloren ginge, sondern auch der besondere Charme – „so hell“ ist es eben erstaunlicherweise, nicht einfach irgendwie hell, und es ist doch schon „so spät“. Und genau darauf kommt es an. Wir machen jedes Jahr alle diese Erfahrung, die sich nie abnutzt und nicht aufhört wunderbar zu sein. Hier gelang es, den Zauber des Moments einzufangen, so poetisch umzusetzen, dass der Leser das Wunderbare teilt, dem Gesang der Amsel lauscht. „so hell“ heißt es in der ersten Zeile, und hier wird nach meinem Empfinden mehr ausgedrückt als die erstaunliche Helligkeit zu dieser späten Stunde. Es gibt die Helligkeit, die hellen Farbtöne, aber auch helle Klänge (Töne) – da korrespondiert also dieses „hell“ der ersten Zeile mit dem Amsellied der dritten Zeile. Der Text faszinierte mich in der Werterrunde (Monatsauswahl März 2005) – noch immer kehre ich gern zu diesem Haiku zurück, hat das Gedicht nichts von seiner poetischen Kraft verloren.
Angelika Wienert
Das Lächeln im Korb
des Korbmachers
Andreas Marquardt
Ist dieser Text ein zweizeilig-lyrischer Aphorismus, ein Gedankensplitter? Oder handelt es sich hier vielleicht um ein Epigramm? Weder noch! Für einen Aphorismus fehlt ein erkennbarer Konsens, auf den sich die geistreiche Äußerung berufen könnte, wie zum Beispiel bei dem bekannten chinesischen Aphorismus: „Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln.“ Und die Essentialen für ein epigrammatisches Textkunststück werden nur hinsichtlich seiner deutlichen Zweigliedrigkeit und überraschenden Wendung erfüllt. Doch ein erklärender Sinnspruch ist es nicht. Hier wird nichts gedeutet oder vorinterpretiert.
Andreas Marquardt ist mit seinem Text ein wunderbares zweizeiliges Haiku gelungen. Der Autor lässt den Leser teilhaben an dem Lächeln des Korbmachers, das dieser während seiner Arbeit in den Korb mit eingeflochten hat. Dabei ist es völlig unerheblich, ob wir Zeuge von genau diesem Augenblick werden, in dem kunstfertig Hände die Weidenzweige biegen und das in sich versunkene Lächeln mit in den Korb einbinden oder ob es der fertige Korb ist, den der Autor gerade benutzt und der ihn an das Lächeln des Korbmachers erinnert.
Der Autor komponiert hier eine sonst eher störende Wortwiederholung bewusst in das Haiku. Der Korb am Schluss der ersten Zeile bildet die Staupause, die gekonnt zu der überraschenden Wendung führt und nicht auf den Einkaufskorb oder den Korb für ein Picknick, sondern auf den lächelnden Korbmacher selbst verweist. Marquardt gelingt es, mit diesem Lächeln die subjektive und objektive Ebene des Geschehens zu verflechten und macht dadurch die Augenblickserfahrung ganz besonders erlebbar.
Wieder einmal wird deutlich, dass äußere Form und Lauteinheiten, die ihre Wurzeln in der japanischen Sprache haben, im deutschen Sprachraum nicht übernommen werden müssen, um das Erlebnis Haiku passieren zu lassen bzw. den kürzesten Weg zwischen Autor und Leser zu finden.
Unausgesprochen bleibt, ob das Lächeln des Korbmachers ein resignierendes Lächeln ist, das aus Verzweifelung über eine aussichtslose Lebenssituation dem Touristen zugeworfen wurde oder ob es das Lächeln eines Korbmachers ist, der um seine Geschicklichkeit weiß und stolz auf sein selten gewordenes Handwerk ist.
Gerd Börner
Den Weg verloren –
grenzenlos
der Acker im Schnee
Arno Herrmann
Das Bild dieses Haiku ist ein äußeres, aber seine Stärke liegt darin, gleichzeitig ein inneres zu sein. Was ist das Faszinierende an dieser Landschaftsszene?
„Schnee abstrahiert. Nehmt an, er hat das Bett gemacht
Für die Vernunft. Er hat die Wege eingeschläfert,
Auf denen der Gedankengang sich sonst verirrte,
Die Landschaft gleicht der Schiefertafel, blankgewischt,
Gekippt um neunzig Grad. Im Winterlicht erstrahlt
Die reinste Kammer lucida. …“
so Durs Grünbein in seinem Gedicht „Vom Schnee“ (Frankfurt am Main 2003, Seite 14), in dem er den Beginn des abendländischen Rationalismus in eine Morgenstunde des Jahres 1619 legt. Descartes wird von seinem Diener Gillot mit den Worten „Es hat geschneit die ganze Nacht“ geweckt. Die Schneelandschaft wird präsentiert als tabula rasa und damit als berechenbare Welt. Aufgehoben ist der Alltagsblick, ein günstiger Moment für neue Sichtweisen.
Die dänische Schriftstellerin Inger Christensen erzählt in einem Essay ihres Buches „Der Geheimniszustand“ (München, Wien 1999) von einem Getreidefeld am Rande eines Buchenwaldes, von dem sie als Kind annahm, hier befände sich das Ende der Welt. Es gibt viele Arten solcher scheinbar unberührt von Menschenhand gebliebenen Landstriche. Eine davon zeigt uns dieses Haiku von Arno Herrmann. Jemand hat auf dem verschneiten Feld seinen Weg verloren. Das Bild artikuliert die Sehnsucht nach dem Unbegrenzten in einer immer begrenzteren Welt. Obwohl die Welt für uns moderne Menschen eigentlich größer geworden ist, ist sie doch geschrumpft zum globalen Dorf, das wir nur sehr selektiv wahrnehmen durch die matten Scheiben unserer Fernsehgeräte. Gelegentlich müssen wir die Orientierung verlieren und die eigenen Grenzen entschwunden sehen, um wieder eine Perspektive zu finden. Selbst in seiner abweisenden Kühle birgt der verschneite Acker nun neue Frucht.
Udo Wenzel
Ersteinstellung: 05.01.2006