Eine Welt der schnellen Bilder

und die Poesieform Haiku
Angelika Wienert

 

Wir werden täglich mit Informationen überflutet, leben in einer Welt der schnellen Bilder. Der umgangssprachliche Ausdruck „zappen“ (der rasche Wechsel in der Aufnahme visueller Informationen) ist mehr als nur die lockere Beschreibung einer banalen Handlung, der Begriff drückt ein Wesensmerkmal der heutigen Zeit aus.

Die Poesieform Haiku fängt einen Augenblick ein, lässt eine Hauptsache eine Hauptsache sein. Ein Haiku kann schnell gelesen und behalten werden, ebenso, wie Serge Tomé treffend ausführt, schnell vergessen. Ob ein Haiku-Bild in unserer Welt der schnellen Bilder eine Chance hat, hängt von vielen Faktoren ab. Der Leser eines Haiku muss fähig und willens sein, ein Haiku-Bild zu komplettieren, damit es wirkt und in ihm zur Haiku-Kunst wird. Er ergänzt aus seinem inneren Fundus, was da nicht ausdrücklich gesagt wird. Die Poesieform Haiku macht es möglich, viel mit wenigen Worten auszudrücken, Bilder entstehen zu lassen, ohne jedes Detail zu beschreiben, Emotionen zu vermitteln, obwohl im Text eine objektive Erscheinung beschrieben wird. Das Haiku drückt etwas aus, das nicht ausdrücklich angesprochen wurde.

Ein gutes Haiku ist nur scheinbar leicht konsumiert, denn im Leser gibt es einen Nachhall zu dem schnell erfassten Bild. Susumu Takiguchi hat diesen Nachhall (yojo) mit einem Glockenton verglichen, der in uns noch tönt, wenn die Glocke bereits nicht mehr schwingt. Diese besondere Wirkkraft des Haiku-Bildes nennt Susumu Takiguchi ein verzögertes Echo der Gefühle, vergleicht es mit dem Geschmackserlebnis nach der Verkostung eines erlesenen Weines.

Dieser Nachhall ist es, der dem Haiku in unserer Welt der schnellen Bilder als Poesieform eine Chance und Daseinsberechtigung gibt.

Literatur

Serge Tomé: Haiku, a poetic form adapted to the present world. (World Haiku Association inaugural meeting, Tolmin (Slovenia) September 2000)

Susumu Takiguchi: Can the Spirit of Haiku be translated? (World Haiku Festival 2000)

 

Ersteinstellung: 12.02.2004