Haiku-Besprechungen Mai 2006

Auf dieser Seite stehen einige Besprechungen zu den Haiku der Monatsauswahl April 2006 von Haiku heute. Aufgerufen zu solchen Besprechungen waren alle freien Mitarbeiter von Haiku heute.

 

Abrissviertel –
auf einem Balkon
Geranienrot

Ramona Linke

Wenn ich dieses Haiku lese, dann zieht mich stets die Mitte der zweiten Zeile an. Auf „einem“ der vielen Balkone ist da „Geranienrot“.  Die Wortwahl „Geranienrot“ lässt mich diese Blumen aus der Ferne sehen, gewissermaßen als roten Fleck.  Die Normalität ist in diesem „Abrissviertel“ wohl schon lange abhanden gekommen. Von spielenden Kindern, flatternder Wäsche, parkenden Autos keine Spur. Mitten in dieser Ödnis harrt jemand aus, hat noch nicht den Ausweg gefunden, kann oder will es vielleicht auch gar nicht. Wer fragt danach, ob Menschen einen Umzug in ein ganz anderes Viertel,  gar in eine andere Stadt psychisch, physisch, finanziell verkraften können. Ein Rest der früheren Welt  wird bewahrt, so lange wie es nur eben möglich ist.

Inzwischen gibt es weltweit Forschungsprojekte über die schrumpfenden Städte (the shrinking-city-syndrom), zum Beispiel geht es um Detroit, Manchester, Halle. Ursachen für die abnehmende Einwohnerzahl sind neben dem Geburtenrückgang die fehlenden Arbeitsplätze am Ort, in der näheren und weiteren Umgebung.

Was in den  Erhebungen der Städteplaner als Fakt erscheint (Zahl der abgewanderten Personen, der benötigten Wohnungen in Zukunft usw.), ist für den einzelnen Menschen ein tiefer Einschnitt in sein Leben, unter Umständen eine Katastrophe. Das „Geranienrot“ ist ein Signal, das verhindert, dass dieser Mensch,  der noch immer auf diesem Balkon seine Geranien pflegt,  zu einer statistischen Aussage wird.

Angelika Wienert, Erstveröffentlichung 10.06.2006

 

„hab dich lieb“
steht auf dem Zettel
im Altpapier

Norbert Stein

Der Ausdruck „hab dich lieb“ ist gerade sehr „in“ bei Teenagern und wird oft als Abschluss-Grußformel in Briefen verwendet. Dass der Zettel im Altpapier landet, ist eine gute Anspielung auf die Flüchtigkeit solcher Beziehungen.

Ruth Franke, Erstveröffentlichung 10.06.2006

 

Am Oktobermeer –
die letzten Sonnenstrahlen
in den Schal stricken

Anne-Dore Beutke

Dieses Haiku hat mir schon beim ersten Lesen gefallen, weil hier einmal ein neues Herbstbild dargestellt wird.

Über die erste Zeile bin ich aber auch gestolpert, zunächst sprachlich. Sie würde ohne „am“ flüssiger klingen. Abgesehen davon, dass der Hinweis auf den Oktober eigentlich überflüssig ist, kann ich mir unter einem Oktobermeer in Verbindung mit einer (am Strand?) strickenden Person nichts Rechtes vorstellen. An der Nordsee ist das Meer im Oktober fast immer stürmisch und die Strandkörbe sind abgebaut.

Vielleicht saß die Autorin aber auch an einem südlichen Meer, genoss noch einmal Sonne vor der kalten Jahreszeit und bewahrte sie in den Maschen des Schals, um Wärme und Erinnerung in den Winter mitzunehmen.

Auf jeden Fall eine schöne Idee!

Ruth Franke, Erstveröffentlichung 10.06.2006

 

Am Oktobermeer –
die letzten Sonnenstrahlen
in den Schal stricken

Anne-Dore Beutke

Eigenartig – mir als Binnenländler stellt sich beim Lesen nicht etwa ein Meer ein, das doch real gemeint sein wird, sondern ein herbstlicher Wald, vom Wind bewegt. Und ich sehe keine strickende Frau, sondern einen Wanderer, der, stehengeblieben, von einer Anhöhe aus den Tanz der Farben betrachtet und etwas davon in sich hineinnimmt, mit den Gedanken beim nahenden Winter.

Wenn das, was beim Leser ankommt, sich so weit von der (vermuteten) Autorenabsicht unterscheidet, ist das eigentlich ein schlechtes Zeichen. „Zu vage“, lauten dann schnell die Kommentare.

Warum nicht hier?

Vielleicht weil, wenigstens diesem strickunwilligen Schwaben, über dieses Bild etwas weitergegeben wird, das selbst kein Bild ist, ihm ein eigenes Bild leicht aber auslösen kann: Eine Stimmung des Herbstes, ein Blick auf den nahenden Winter und eine Lust, Hamster zu sein und zu sammeln.

Das ist nicht originell, wenigstens erinnere ich mich, selbst eine Kindergeschichte dieses Themas geschrieben zu haben, um dann, nach der Veröffentlichung, zu erfahren, dass es dazu schon eine sehr bekannte Erzählung geben soll. Auf der Suche nach einem Häufchen Asche dachte ich mir damals dann aber, dass diese Dinge immer wieder wahr sind, und dass sie immer wieder neu beschrieben sein wollen, mit den Worten des jeweiligen Jahres, mit den regionalen Gegebenheiten und den Eigenwilligkeiten des Autors.

Und wenn mein Blick dann wieder nach oben geht, erkennt er dies alles wieder, in den drei einfachen Zeilen des Haiku.

Volker Friebel, Erstveröffentlichung 10.06.2006

 

Ersteinstellung: 10.06.2006