Kirschkerne spucken …

Angelika Wienert im Gespräch mit Turgay Uçeren

 

Vorbemerkung: Das Gespräch wurde für die türkische Netz-Zeitschrift Uta in deutscher Sprache geführt und in Türkisch erstveröffentlicht.

 

Turgay Uçeren: Wer ist Angelika Wienert und wie ist sie auf Haiku gestoßen?

Angelika Wienert: 1956 wurde ich in Oberhausen im Ruhrgebiet geboren, wo ich auch heute noch mit meiner Familie lebe. Das Ruhrgebiet ist zwar traditionell eine Industrieregion, aber wir haben einen Garten, wohnen ganz nah an einem Wald.

Im Dezember 2001 stellte ich, während ich im Internet surfte, erstaunt fest, dass es in aller Welt Menschen gibt, die Haiku schreiben. Ich hatte vorher fälschlicherweise angenommen, dass es diese Form der Poesie nur früher in Japan gegeben habe. Aus diesem Erstaunen wuchs Interesse für dieses Genre, aus dem Interesse das Leben mit Haiku.

Turgay Uçeren: Angelika, was ist für Sie Haiku? Hat Haiku in Ihrem Alltag, in Ihrer Vorstellung vom Leben etwas ausgewirkt? Wenn ja, in welcher Richtung und Stärke?

Angelika Wienert: Haiku ist für mich der Geschmack des Augenblicks. Wir atmen, denken nicht darüber nach, trinken Wasser, um unseren Durst zu löschen – wir empfinden dies als der Natur entsprechend. Ebenso natürlich ist es für mich geworden, dass das Genre Haiku in meinem Leben Raum hat.

Santôka Taneda sagte, „Real haiku is the soul of poetry …“. Diese Sichtweise entspricht meinem Empfinden. Und Harold G. Henderson meinte, dass ein Haiku in erster Linie ein Gedicht sei, das Gefühle ausdrücken und wecken wolle. Wir teilen mit unseren Lesern einen Moment, der es (nach unserem Gefühl) wert ist, geteilt zu werden.

Turgay Uçeren: Das Genre Haiku im traditionellen Sinne ist stark auf die Jahreszeiten bezogen. Was denken Sie über Haiku ohne kigo (Jahreszeitenwort), sehen Sie auch weltweit eine steigende Tendenz zu Haiku mit Schlüsselwörtern? Wie traditionell darf für Sie Haiku sein? Inwieweit halten Sie sich an die traditionelle Form (Regeln) bei Ihren Haiku?

Angelika Wienert: Hier gehen die Meinungen in der Haiku-Welt auseinander. Während die einen den Jahreszeitenbezug durch ein Jahreszeitenwort (kigo) für unabdingbar halten, meinen andere, dass in Haiku Schlüsselwörter (Tod, Schmerz, Lächeln und anderes) wirken können und dürfen (zum Beispiel Kacian). Für David G. Lanoue gehört in ein traditionelles Haiku ein kigo, aber er erkennt an, dass es Haiku ohne Jahreszeitenbezug geben kann, von der Kategorisierung Schlüsselwörter hält er nichts. Ich bin Freiformatlerin (freestyle), setze kigo dann ein, wenn ich es für poetisch sinnvoll halte.

Turgay Uçeren: Gibt es Haiku Meister, die eine besondere Wirkung auf Sie haben?

Angelika Wienert: Issa ist mir nah, weil mir seine religiöse Sicht der Welt, des Lebens nah ist – in Issas Haiku begegne ich einem Freund.

Von Anfang an und bis heute immer wieder fesseln mich Gedichte Busons, der meines Erachtens in der westlichen Haiku-Welt unterschätzt wird. Masaoka Shiki liebte Busons Haiku – ich befinde mich da also in guter Gesellschaft … Nein, ernsthaft: Buson steht im Schatten des großen Haiku-Dichters Bashô, und er gehört da, wie ich finde, nicht hin. Der Maler Buson war ein großer Kenner der chinesischen Poesie, ein wunderbarer Haiga-Künstler, schrieb Haiku, die große Tiefe haben. Wer beginnt, sich mit Buson zu beschäftigen, wird sich nicht schnell langweilen.

Die Einfachheit, Klarheit, Sprödigkeit, ja, die Schroffheit der Haiku Santôka Tanedas zieht mich an. Robert F. Wittkamps Büchlein „Santôka. Haiku, Wandern, Sake.“ kann ich nur jedem Haiku-Interessierten empfehlen. Auch im Internet finden sich zahlreiche Haiku Santôka Tanedas.

Durch Makoto Uedas Buch „Far Beyond the Field. Haiku by Japanese Women“ habe ich Haiku der Dichterin Sugita Hisajo kennengelernt, die eine sehr interessante Haiku-Persönlichkeit war.

Turgay Uçeren: Angelika, schreiben Sie auch fiktive Haiku und was denken Sie über Shikis Shasei und über seinen Einfluss auf Haiku im Westen?

Angelika Wienert: Shikis Einfluss auf die Haiku des Westens war und ist enorm, darf aber auch nicht überschätzt werden. Die Haiku-Welt lebt davon, dass sie vielgestaltig ist. Gerade das Nebeneinander von Haiku mit shasei-Prägung, von subjektiv gefärbten Texten, macht die Buntheit im Haiku-Garten aus. Wie weit die subjektive Färbung aber gehen darf, ab wann man sich nicht mehr auf Haiku-Boden bewegt, dies ist allerdings Text für Text zu klären.

Turgay Uçeren: Angelika, meinen Sie, das Haiku und Senryu eng verbunden sind? Und was denken Sie über Humor in Haiku?

Angelika Wienert: Die einen sehen keinen Unterschied zwischen Haiku und Senryû, andere trennen ganz streng. Ich machte mir bisher nicht viele Gedanken dazu, nahm aber zur Kenntnis, dass manche bestimmte Texte, die ich schrieb, Haiku nannten, andere Texte aber für Senryû hielten. Humor kann es in Haiku, in Senryû, in allen den Mischformen geben – besonders ironische, gar sarkastische Texte würde ich aber in jedem Falle zu dem Bereich Senryû zählen. Der Humor gehört zu unserem Leben wie die Trauer. Die Themen, über die man lacht, scheinen aber (so meine Erfahrung) verschiedener zu sein, als das, worüber man weint. Texte, die ich in einem amerikanischen Haiku-Forum vorstellte und dort als gute Senryû bezeichnet wurden, da sie ausgesprochen komisch und ironisch seien, kamen in der deutschen Haiku-Welt nur mäßig an. Vielleicht gelingt es mir mal ein Haiku, ein Senryû zu schreiben, das den Humor der deutschen Leser besser trifft.

Turgay Uçeren: Was denken Sie über Themen in Haiku, wie Krieg, Terrorismus, Sexualität, Gewalt usw.? Gibt es für Sie Tabus?

Angelika Wienert: Nein, natürlich nicht. Durchforschen Sie das Net. Sie werden zum Beispiel viele Haiku über den 11. September finden. Wir teilen als Haiku-Schreiber/innen Momente, die uns bewegen. Wie könnte so ein Tag (solch ein entsetzlicher Terror-Akt) ausgeklammert werden?

Der Begriff Holocaust-Day ist inzwischen als kigo anerkannt – Gerd Börner (Berlin) und ich gebrauchten meines Wissens diesen Begriff erstmals in Haiku (siehe Worldkigo Database). In meinem Haiku „Still ist es / an Rahels Grab – / kein Steinchen“ geht es implizit um den Holocaust (die Shoa) – da ist eben niemand, der die jüdische Sitte erfüllen könnte, Steinchen auf das Grab, den Grabstein zu legen, die Familie wurde ausgelöscht.

Die Gewalt, das Leid waren immer in der Geschichte präsent, und dieser Zustand dauert an. Massenarbeitslosigkeit, Gewalt an Schulen – so vieles bewegt uns, betrifft direkt unseren Alltag. Was uns berührt, kann zum Haiku-Thema werden.

Turgay Uçeren: Haben Sie philosophische Hintergründe beim Schreiben von Haiku? Denn das traditionelle japanische Haiku bewegt sich ja sehr stark in shintoistischen und buddhistischen Lebensvorstellungen. Wie sieht der philosophische Hintergrund im Westen aus? Welche Unterschiede sehen Sie zwischen den Haiku-Schreibern beider Welten und gibt es überhaupt für Sie Unterschiede?

Angelika Wienert: In die Haiku bringe ich mich so ein, wie ich bin. Ich wandere zwischen verschiedenen Welten. Im Westen geboren, die dort entstandenen Philosophien im Kopf, mit den christlichen Traditionen vertraut, gehe ich (mehr stolpernd als gehend) den Dharma-Weg (im Westen sagt man dazu `Buddhist sein`).

Haiku kann, davon bin ich überzeugt, jeder schreiben, der offen für das Leben ist. Aus allen Himmelsrichtungen kommend, verschiedene kulturelle Hintergründen habend usw. können wir uns doch treffen und die Freude am Genre Haiku teilen, wenn wir uns die kindliche Offenheit für das Leben (so wie es ist) bewahrt haben.

Turgay Uçeren: Warum schreiben Sie Haiku? Könnten Sie ein paar Beispiele geben?

Angelika Wienert: Mit dem Haiku „Kirschkerne spucken … / So weit / wie früher!“ teile ich (die Leserreaktionen zeigen es mir) Lebensfreude, überbrücke Zeit (Lebenszeit). Dieses kindliche Vergnügen („Kirschkerne spucken …“) verbindet mich mit meiner Kindheit, verbindet den Leser mit seiner Kindheit. Wir leben jetzt, unser Haar ist möglicherweise schon grau, aber das Kind in uns ist immer noch da, und es scheint so zu sein, dass die Leser diesem Kind, das doch in ihnen nie ganz verschwunden ist, gern begegnen, so wie ich es auch empfinde.

Ein Haiku ganz anderer Art ist „hot night / next door / the blues“. Bis jetzt habe ich kein Haiku geschrieben, das weniger Silben hat. Die Silbenverteilung 2-2-2 wirkt nach Lesermeinung aber nicht gleichförmig. Dehnungen in der zweiten und dritten Zeile lassen diese Zeilen länger als die erste erscheinen. Das Haiku hat eine erotische Note, die wohl durch den Klang des Begriffes „blues“, das Wissen um die Art dieser Musik gegeben ist. Nebenan ist die Musik zu hören – ungesagt steht da die Sehnsucht im Raum, dort zu sein, wo die Musik spielt in dieser heißen Nacht, wo Freude, Miteinander, Zärtlichkeit sind.

Turgay Uçeren: Angelika Sie schreiben auch wunderschöne Haibun; welche Kriterien sind für Sie nicht wegzudenken, wenn Sie Haibun schreiben?

Angelika Wienert: Im letzten Jahr habe ich angefangen, Haibun zu schreiben. Ich fühle mich als Lernende (auch natürlich bei Haiku, Senryû, Renga-Dichtung usw. – wir hören glücklicherweise nie auf, Lernende zu sein). Haikai-Qualität sollen die Prosa und Haiku eines Haibun haben, sagen die Experten. Ray Rasmussen, Ken Jones und andere sind Meister ihres Faches. Wenn Sie über Haibun-Theorie mehr wissen wollen, dann empfehle ich Ihnen, sich an diese zu wenden.

Turgay Uçeren: Sowohl in Japan als auch im Westen gibt es die verschiedensten Haiku-Wettbewerbe oder Auswahlen in Haiku-Magazinen. Meinen Sie, dass all diese Wettbewerbe und Auswahlen für Genre Haiku fördernd sind, oder führen sie regelrecht zur Haikuinflation? Was meinen Sie, könnte ein landesweiter Wettbewerb auch in unserem Lande zu einer Verbreitung für Genre Haiku führen, vor allem, wenn man bedenkt, dass für den legendären ersten Haiku-Wettbewerb, den Japan Air Lines 1964 in den USA veranstaltet hatte, über 41.000 Beiträge eingesandt wurden, und dass er der eigentliche Anfang für das Genre Haiku im Westen war?

Angelika Wienert: Es gilt, sich in der Haiku-Welt durch allerlei Müll zu wühlen. Und ich habe selbstverständlich auch Texte geschrieben, die auf diese Haiku-Müllhalde gehören. Aber wenn wir aufmerksam schauen, dann stellen wir fest, dass es viele gute Haiku zu entdecken gibt.

Turgay Uçeren: Zum Abschluss bitte ich Sie um einige Ratschläge, gerichtet an die türkischen Haiku-Freunde.

Angelika Wienert: Lassen Sie, liebe türkische Haiku-Freunde, nicht zu, dass Konkurrenzkampf, Neid usw. Ihnen die Freude an der Haiku-Dichtung verderben. Seien Sie offen für jedes gute Haiku, auch wenn es jemand schrieb, der Ihnen persönlich unsympathisch ist. Bewahren Sie sich Ihre kindliche Freude an den ersten Frühlingsblumen, dem Sonnenschein nach dem Sturm, dem Lachen der spielenden Kinder. Wenn Ihnen dies gelingt, dann wird das Genre Haiku Ihr Leben bereichern.

 

Ersteinstellung: 07.08.2006