Ästhetische Momente 3

Angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren.

Überraschung

Eine Erwartung wird geweckt, damit Spannung aufgebaut – dann wird überraschend aufgelöst. Im Scherben-Haiku von Birgit Lockheimer wechseln wir in der letzten Zeile aus schlimmer Vergangenheit in die Gegenwart:

Reichskristallnacht
in der blutigen Hand Scherben
des Mahnwachenlichts 1

Auch das Arzt-Haiku von Anke Holtz beginnt beunruhigend:

noch sechs Monate
sagt der Arzt
dann ist Sommer 2

Die Prognose der Lebenserwartung wird zum Plaudern über das Wetter.

Das eigene „Herbstlaub“ scheint ganz konkret aufgebaut – und endet mit einer Überraschung, die uns einiges über Wahrnehmung und Sprache verraten kann, wenn wir den Text zu entwirren versuchen.

Herbstlaub.
Die Parklücke nimmt ein Auto auf
und verschwindet. 3

Humor

Das Haiku löste sich aus dem Kettengedicht, genauer: aus der Schule des „haikai renga“, des scherzhaften Kettengedichts. Erst Bashō führte unser damals Haikai (Scherz, Witz) genanntes Gedicht in die Ernsthaftigkeit.

Wenn Haiku heute auch nicht mehr als Scherzgedichte bezeichnet werden können, wird Humor doch gern gelesen und geschrieben.

Mit Angelika Wienert erinnern wir uns an die Jugendzeit:

Kirschkerne spucken …
So weit
wie früher! 4

Auch Marita Bagdahn erkennt die alten Zeiten in der Gegenwart:

Alte Liebe
er lässt sie
an seinem Eis schlecken 5

Diana Michel-Erne dürfte mit einem Begleiter scherzen:

Walderdbeeren
eine für mich
eine für mich 6

Elisabeth Weber-Strobel entscheidet sich nicht für das Gruseln, sondern für Humor:

auf Opas
Nachtkästchen
sein Lächeln 7

Silvia Kempen weiß auch der Würde des Alters – und womöglich der Krankheit – etwas Heiteres abzugewinnen:

Bachstelzen,
der alte Herr nickt
zurück 8

Lachen ist gesund und tut gut! Hat eine Kuh Humor? Eine Mücke? Wir wissen es nicht wirklich. Die Fähigkeit zu Humor könnte aber eine der Eigenschaften sein, mit denen sich der Mensch von all den anderen Wesen unterscheidet. Unterschiede darf man auch mal betonen, sie machen uns zu dem, was wir sind.

Nähe und Ferne

Ästhetisch reizvoll ist, im Haiku Fernes ganz nah werden zu lassen, das Ferne mit etwas Nahem zu verbinden. Oder vom Nahen ausgehend die Ferne zu vergegenwärtigen.

Am Rande der Galaxie
ein Pirol
besingt sein Revier 9

Der Pirol von Helga Stania zeigt uns am Rand der Unendlichkeit unser kleines Ich, wie es Besitz häuft, sich abgrenzt, wie es sein Leben bejubelt, das nicht mehr als ein Staubkorn auf einem Staubkorn ist – und doch für sich selbst alles. Das sich nicht arm, sondern reich fühlen kann in dieser unendlichen Schönheit und Weite.

Nebenbei ist der Pirol Beispiel für einen Scharnier-Vers: Die mittlere Zeile, das Scharnier, kann sowohl nur mit der ersten als auch nur mit der dritten Zeile als eigenständiger Text gelesen werden.

Besondere Perspektive

Erdaufgang –
träumen dass die Menschen gut sind … 10

Von wo sieht man die Erde aufgehen? Vom Mond. So fern muss man in Gerda Försters Haiku der Erde sein, um davon zu träumen zu können, dass die Menschen gut sind.

Von ganz nah, von ganz fern, mit den Augen eines Froschs, eines Kindes – es gibt viele Möglichkeiten, ungewöhnliche Perspektiven zu erkunden, die unsere gewohnte ergänzen können.

Identifikation

Sein Atem wird mein Atem am Sterbebett 11

Dem vorgegebenen Rhythmus, dem lauten Atem, gleicht sich der eigene unwillkürlich an. Und wenn das, wie im Haiku von Marianne Kunz, am Sterbebett geschieht, bleibt der eigene Atem irgendwann allein zurück, im Rhythmus des anderen, vergangenen. Durch diese Angleichung des Atems, durch die Aufnahme des Atems eines anderen, wird eine Beziehung geschaffen, vor der alle Unterschiede, auch Leben und Sterben, verblassen.

Scherzhaft vorgestellt ist die Identifikation im Haiku von Gabriele Hartmann mit den Raben:

krächzende Raben
ich spreize mein Gefieder
und stimme ein 12

Das „Lächeln“ von Gerd Börner ist dagegen verschieden interpretierbar und das Haiku je nach Interpretation unter mehreren Kategorien einordenbar:

Im Treppenhaus …
dein Lächeln
ist schon oben 13

Als Identifikation: Das Lächeln der Frau, die gerade unten das Treppenhaus betritt, ist schon oben, auf dem Gesicht des Mannes, der sie erwartet. (Eine andere Interpretation: Die Erwartung an das, was oben wartet, macht lächeln.)

Namen sind Schall und Rauch? Was ein Name mit uns macht, zeigt uns Georges Hartmann beim Einkauf:

Fünfzehn Mastgänse
hängen im Metzgerladen,
mittendrin Elsa. 14

Identifikation in einem Haiku bringt den Leser meist näher heran.

Existenzielles

Lebensweisheiten sind in der Dichtung verpönt. Wenn überhaupt, dann akzeptieren wir sie eingebunden in beschreibende Texte oder von möglichst lange toten Autoren. Lebensweisheiten wirken überheblich, abstrakt, ja lebensfremd. Empathie erzeugen sie kaum.

Existenzielles in der Dichtung kann aber ein Aufzeigen sein. Kein Zeigefinger: „Da schau her, so ist es!“, sondern ein Deuten in eine bestimmte Richtung, ein Andeuten – das gewinnt, wenn es konkret genug bleibt, kein abstraktes „summa summarum“, sondern ein Blick auf Konturen im Nebel.

dieses Rauschen im Regen
von dort
komme ich her 15

Das „Rauschen im Regen“ von Hubertus Thum zeigt in eine solche Tiefe. Einer Deutung entzieht es sich, wie das für existenzielle Thematik fast selbstverständlich ist.

Antworten oder Stellungnahmen des Autors zur Thematik schwächen meistens den Text. Aber nicht immer.

was Schuld ist
und was Unschuld …
Apfelblüten im Wind 16

Im Spiegelsaal
überall ich
suche den Ausgang 17

Der Text über Schuld von Eva Limbach und der „Spiegelsaal“ von Günther Kaschützke wollen Antworten zumindest andeuten. Beide provozieren damit vielleicht eine stärkere Auseinandersetzung des Lesers mit ihrer Thematik. So kann manchmal doch eine Antwort oder das Deuten in die Richtung einer Antwort den existenziellen Text bereichern.

Ralf Bröker bleibt mit seinem Text vom Meer und vom Glas bei der Frage. Das lässt den Text schweben.

was übrig bleibt vom Meer
und vom Glas
das wir teilen 18

Deutlicher werden wie der Spiegelsaal und die Schuld, schweben wie das Glas und das Rauschen im Regen? Wir müssen uns nicht entscheiden, auch nicht, wenn wir persönliche Vorlieben entdecken. Über unsere Vorlieben erkennen wir vielleicht, was wir selbst in Texten suchen: Anregungen? Antworten? Überraschung? Bestätigung?

und nicht bloß zum schein
einfach alles gegeben –
dahlienblüten 19

Mit ihren Dahlienblüten provoziert Birgit Schaldach-Helmlechner einen Vergleich mit uns selbst. Der zu unseren Ungunsten ausfallen muss und dennoch motivieren kann.

Politik

Viel der erhaltenen Dichtung alter Zeit wurde von der Macht und den Institutionen getragen, diente deren Verherrlichung: als Heldensage, als religiöses Chorlied. Darauf reduzieren ließ sich Dichtung allerdings nie, die Arbeitslieder auf den Feldern, die Lieder zum Tanz auf dem Dorfplatz sind vielleicht nicht erhalten, klangen aber sicher nicht weniger in den Menschen.

Nach Zeiten der Politisierung, nach ihren Beiträgen im demokratischen, sozialistischen, faschistischen Kampf, ist Dichtung privat geworden. Nach Problematisierung von Gruppe, Stand, Klasse, Volk ist sie heute fast ganz auf den einzelnen Menschen bezogen, den der Dichter beispielhaft vorstellt.

Wenn überhaupt, wird noch der Widerstand geschätzt, das Aufbegehren des Kleinen gegen das Große, des Schwachen gegen das Mächtige, der Freiheit gegenüber Unterdrückung und Einengung, der Feder gegen das Schwert.

Mahnwache –
ich schütze mein Licht
vor dem Wind … 20

Hausversteigerung
im Garten baut die Amsel
ihr Nest 21

Ob nun in der „Mahnwache“ von Kasina Zürn-Renger oder der „Hausversteigerung“ von Eleonore Nickolay: Mitempfinden stellt sich nicht mit dem Wind der bestehenden Verhältnisse oder den neuen Hausbesitzern ein, sondern mit den Hütern des Lichts, mit der Amsel im Garten.

Dichtung scheint mir am erfolgreichsten, am inspirierendsten zu sein, wenn sie genau hinschaut, wenn sie differenziert – und dennoch zu schweben versteht. Dass das auch mit politischen Texten möglich ist, zeigt ein Text von Dietmar Tauchner:

9 / 11
zu warm in der Sonne
zu kalt im Schatten 22

Psychologie

Menschliches Verhalten und sein psychologischer Hintergrund ist häufig Thema von Haiku. Im Haiku von Heinz Schneemann erfahren wir, was hinter unserem Sortieren und Katalogisieren stehen kann.

die welt neu ordnen
beim sortieren der bücher
in meinem regal 23

Die Welt“? Meine Welt ist die Welt.

Erklärungen, Stellungnahmen des Autors funktionieren in der Dichtung kaum je, schon gar nicht im Haiku. im Sortier-Haiku allerdings überraschenderweise doch.

In der „Blauen Stunde“ von Brigitte ten Brink wird nichts erklärt, nur beobachtet. Und dadurch vermittelt, wie unpassend Erklärungen sein können, jedenfalls manchmal. Vielleicht denken wir auch darüber nach, weshalb wir sie trotzdem tätigen. Oder schütteln einfach den Kopf.

Blaue Stunde
er erklärt die Streuung
des Lichtes 24

Was erwarten wir, aus dem Büro kommend, wenn wir etwas am Scheibenwischer des Autos sehen, was sehen wir in dieser Erwartung geradezu schon?

kein Strafzettel
Herbstblätter 25

Erleichterung. Die Türe öffnen, hineinsetzen, davon. Das Herbstblätter-Haiku von Martin Berner nimmt uns mit.

Einfachheit

Wir haben viele Möglichkeiten für die ästhetische Gestaltung von Haiku gelesen. Sicher gibt es noch mehr. Bevor wir freudig möglichst viel davon in anderen Haiku wiederfinden oder in eigenen Haiku umsetzen wollen, das vielleicht Wichtigste in der Ästhetik des Haiku zum Schluss: Einfachheit.

Ein Text, der sich auf wenig der vielen Aspekte von Ästhetik konzentriert, dürfte besser aufgenommen werden, als einer, in den viel hineingepackt wurde.

Einfachheit ist vielleicht nicht immer beim Lesen, auf jeden Fall aber bei der Bearbeitung von Haiku das wichtigste Kriterium. Mindestens nachdem ein Haiku aufgeschrieben ist, sollte sich der Autor als Bildhauer betrachten: Was lässt sich an Text wegnehmen? Dazu gilt es, jedes Wort und jede Kombination von Wörtern zu prüfen. Ein Haiku ist dann fertig, wenn jede weitere Streichung es verschlechtert.

Muss zum Hauptwort ein Artikel gesetzt werden – oder verbessert sich der Text, wenn der Artikel gestrichen wird?

Wenn in einem Haiku zweimal derselbe Artikel vorkommt, sollte auf Veränderungsmöglichkeiten geschaut werden. Und mit einem weiteren Blick: Wie viele Artikel stehen überhaupt im Text? Lässt sich die Anzahl reduzieren?

Die Worte sind da, um die Vorstellungskraft des Lesers anzuregen. Stehen mehr als nötig darin, mehr als für die Vorstellung eines Bildes nötig, schadet das dem Bild, es wird unsicher, flackert.

Wie viele Hauptbegriffe stehen im Text? Mehr als zwei? Wie wirkt der Text, wenn bis auf zwei alle gestrichen werden?

Einfachheit meint allerdings keine Verstümmelung von Sprache, kein Stenografie-Gedicht! Wirkt der Text gedrängt oder luftig?

Wie wirkt der Text laut gelesen?

Einfachheit gehört als Kriterium zur Bearbeitung von Haiku – und sie hat auch für Leser eine hohe ästhetische Qualität.


1Haiku-Jahrbuch 2013: Entropie der Worte, Seite 48.

2Haiku-Jahrbuch 2017: Leichte Fracht, Seite 37.

3Haiku-Jahrbuch 2015: Zwiegespräch mit dem Irrlicht, Seite 28.

4Haiku-Jahrbuch 2004: Der Lärm des Herzens, Seite 46.

5Haiku-Jahrbuch 2014: Unter dem Milchschaumherz, Seite 6.

6Haiku-Jahrbuch 2016: Südwind, Seite 57.

7Haiku-Jahrbuch 2013: Entropie der Worte, Seite 72.

8Haiku-Jahrbuch 2013: Entropie der Worte, Seite 39.

9Haiku-Jahrbuch 2014: Unter dem Milchschaumherz, Seite 72.

10Haiku-Jahrbuch 2014: Unter dem Milchschaumherz, Seite 23.

11Haiku-Jahrbuch 2016: Südwind, Seite 50.

12Haiku-Jahrbuch 2015: Zwiegespräch mit dem Irrlicht, Seite 35.

13Gerd Börner (2018): Das Echo der Kiefern, Seite 61; auch Haiku-Jahrbuch 2003: Gepiercte Zungen, Ausgabe 1, Seite 29.

14Mitarbeiterseite von Georges Hartmann auf www.haiku-heute.de 2003; nicht mehr online.

15Haiku-Jahrbuch 2004: Der Lärm des Herzens, Seite 41.

16Haiku-Jahrbuch 2017: Leichte Fracht, Seite 48.

17Haiku-Jahrbuch 2017: Leichte Fracht, Seite 41.

18Haiku-Jahrbuch 2018: Morgennachrichten, Seite 16.

19Haiku-Jahrbuch 2018: Morgennachrichten, Seite 69.

20Haiku-Jahrbuch 2011: Regler ins Weiß, Seite 60.

21Haiku-Jahrbuch 2015: Zwiegespräch mit dem Irrlicht, Seite 61.

22Dietmar Tauchner (2012): Steg zu den Sternen, Seite 32.

23Haiku-Jahrbuch 2006: Feine Kerben, Seite 44.

24Haiku-Jahrbuch 2017: Leichte Fracht, Seite 14.

25Haiku-Jahrbuch 2007: Große Augen, Seite 9.

 


Grundwissen (Übersichtsseite mit Kurzfassung)
Merkmale des Haiku
Kleine Geschichte des Haiku
Haiku und Prosa: Haibun
Haiku und Kettengedicht: Tan-Renga
Haiku und Bild: Haiga
Haiku in Gedichten
Haiku und besondere Orte

Vertiefungen (Auswahl)
Weshalb Haiku?
Ästhetische Momente 1
Ästhetische Momente 2
Ästhetische Momente 3

 


Alles angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren. Erhältlich im Buchhandel und in den Versanden. Ein Klick auf die Schaltfläche führt zum Shop des Druckwerks, wo eine Vorschau eingesehen und das Buch bestellt werden kann.