Haiku und Lyrik

Angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren.

 

Eine erste Übersicht zum deutschsprachigen Haiku erschien 1978 von Hachiro Sakanishi und Mitarbeitern als „Anthologie der Deutschen Haiku“ in Japan. Interessanterweise sind dort neben Haiku auch Bruchstücke aus längeren Gedichten auf­geführt, die isoliert als Haiku gelesen werden können, so etwa „Aus grauem Himmel“ von Arno Holz, erschienen im Phanta­sus (1898/99):

Plötzlich – still.
Auf einem jungen Erlenbaum
wiegen sich blinkende Tropfen.

David Cobb (2007) folgt diesem Vorbild und setzt in seine englische Anthologie „Euro-Haiku“ von Friedrich Hölderlin aus „Hälfte des Lebens“ (Erstveröffentlichung 1804):

Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Diese Vorgehensweise weist darauf, dass uns die Ästhetik des Haiku nicht grundsätzlich fremd ist, dass wir sie auch in länge­ren Gedichten europäischer Herkunft aufblitzen sehen können.

Konkretheit und Gegenwärtigkeit gibt es auch in alten westlichen Texten. Erst im japanischen Haiku finden wir aber den Mut, solche Texte als abgeschlossene Gedichte bestehen zu lassen.

Wenn wir in alten deutschen Gedichten Haiku sozusagen eingelassen finden, lässt uns das fragen, ob nicht auch bewusste Verbindungen der Gegenwartsmomente des Haiku mit der ausführlicheren Herangehensweise europäischer Dichtung möglich sind.

Das mögen Haiku-artige Bruchstücke in längeren Gedich­ten sein oder vollwertige Haiku, die Teil eines längeren Gedichts bilden. Für letzteres ein Beispiel (aus: Volker Friebel (2019): Manchmal Tau. Lyrik und Haiku):

In der Mitte der Welt

Platzende Knospen.
Am Ufer der Milchstraße
ein Teich.

Ich habe Schnee geschoben
und Sterne, eine ganze Wiese Schnee.
Ich habe Holz gehackt und die Scheite
gestapelt am Haus.
Ich habe der Sonnenuhr Zeiger
im Schatten entdeckt.
Ich habe den Schatten des Lebens entdeckt
und nichts mehr gesucht.

Ein Frosch springt vom Ufer
hinein in die Sterne, treibt langsam
dem Grund zu.

Die Eintagsfliege
sitzt in der Mitte der Welt, reibt sich
ein Bein, sieht mich an.

Dass das Haiku eine Bereicherung für die europäische Lyrik ist, als eine Gedichtform neben anderen, schon vorhandenen, ist unumstritten. Dass das Haiku in den Gehalt europäischer Gedich­te eingedrungen sein könnte, als Betonung von Konkretheit und Gegenwärtigkeit, ist eine weiterführende Auffassung.

Konkretheit und Gegenwärtigkeit waren im europäischen Gedicht schon immer möglich, wurden auch schon immer verwirklicht – die Beispiele von Holz und Hölderlin zeigen das. Die Beschäftigung mit dem Haiku kann dazu führen, hat viel­leicht bereits dazu geführt, diesen Charakterzug von Dichtung klarer zu sehen, mehr zu betonen, ihn zu stärken, mit ihm europäische Dichtung insgesamt lebendiger zu machen.

 


Grundwissen (Übersichtsseite mit Kurzfassung)
Merkmale des Haiku
Kleine Geschichte des Haiku
Haiku und Prosa: Haibun
Haiku und Kettengedicht: Tan-Renga
Haiku und Bild: Haiga
Haiku in Gedichten
Haiku und besondere Orte

Vertiefungen (Auswahl)
Wird ergänzt …

 


Alles angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren. Ein Klick auf die Schaltfläche führt zum Shop des Druckwerks, wo eine Vorschau eingesehen und das Buch bestellt werden kann.