Kleine Geschichte des Haiku

Angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren.

Japan

Die Geschichte des Haiku beginnt im japanischen Mittelalter. (In ihrem japanischen Teil folgt diese Darstellung im Wesentlichen Eduard Klopfenstein im Nachwort des Buchs Klopfenstein & Ono-Feller (2017): Haiku). Es entwickelte sich aus dem damals sehr verbreiteten Ketten­gedicht heraus, das meist in geselliger Runde nach einem festgelegten Regelapparat von verschiedenen Dichtern zusammen verfasst wurde. Der erste Teil eines Ketten­gedichts, er wird „Hokku“ genannt, entspricht dem, was wir heute ein Haiku nennen. Dieser erste Teil wurde meist vom Leiter der Dichtrunde vorgegeben. Beispiel für ein Hokku aus späterer Zeit, verfasst von Yosa Buson (1716-1783):

Die Päonie –
abgefallene Blütenblätter,
zwei, drei aufeinander …

Das auf diesen Eingangsvers aufbauende Kasen (ein 36-teili­ges Kettengedicht; veröffentlicht 1780; hier nach der Übertragung in Yosa Buson (1992): Dichterlandschaften) dichtete Buson zusammen mit nur einem anderen Dichter, seinem Schüler Taika Kitō (1741-1789). Dieser ergänzte als zweiten Teil:

Am Zwanzigsten im Deutzienmonat,
bei fahlem Mondlicht ganz früh …

Ebenfalls Kitō als dritten Teil:

Ein alter Mann,
vornehm hüstelnd: Er geht wohl
das Tor öffnen …

Grundprinzip der japanischen Kettendichtung: Der erste Teil gibt etwas vor, der zweite Teil bezieht sich darauf, der dritte Teil bezieht sich auf den zweiten Teil – nicht aber auf den ersten Teil, von dem er einen deutlichen Abstand haben sollte. Und so geht es weiter. Zudem gibt es für die verschie­denen folgenden Teile Vorgaben zum Inhalt – und es sollen keine Wiederholungen vorkommen: Jedes Glied eines Ketten­gedichts ist so ein einzigartiger Teil der vielfältigen Welt und nur durch seine direkten Nachbarn eingebunden ins Ganze.

Wesentlich für den Aufbau der Verse eines Kettengedichts war das klassische Waka, das japanische Gedicht, im Unter­schied zu den damals in Japan bevorzugten chinesischen Gedichtformen. Ein Waka besteht aus Folgen von fünf und sieben Lauteinheiten (Moren). Die heute bekannteste Form eines Waka ist das Tanka, mit fünf, sieben, fünf, sieben, sieben Lauteinheiten, zusammen also 31. In europäischen Sprachen wird das Tanka fünfzeilig geschrieben, im Japanischen kann das anders sein.

Dem Hokku entsprechen die ersten drei „Zeilen“ des Tanka, seinem ersten Anschluss die „Zeilen“ vier und fünf.

Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschien das Hokku als eigenständige Dichtform. Es wurde auch als Einzeldichtung Hokku genannt – oder Haikai – oder ausführ­licher: Haikai no Hokku. Denn „Haikai Renga“ hieß die Art des Kettendichtens, die sich damals durchgesetzt hatte, und Hokku nannte man das erste Glied darin. Breiter bekannt wurde die neue Dichtform des Hokku oder Haikai aber erst im 17. Jahrhundert, in der Edo-Zeit, durch die sogenannte Teimon-Schule von Matsunaga Teitoku (1571-1653) und die Danrin-Schule von Nishiyama Sōin (1605-1668), in beiden Schulen eher als Scherzgedicht. Ein bekanntes Beispiel aus dieser frühen Zeit (von Arakida Moritake (1473-1549), etwa nach Eduard Klopfenstein & Masami Ono-Feller (2017), Seite 12):

Fliegt die gefallene
Blüte zurück an den Zweig?
Ein Schmetterling!

Der entscheidende Schritt hin zu ernsthafter Literatur gelang unter Matsuo Bashō (1644-1694). Nach seiner Umsiedlung von Kyōto nach Edo (das heutige Tōkyō) im Jahre 1672 etablierte er sich dort als Lehrer von Kettengedicht und Hokku. Wohl im Jahre 1682 nimmt er den Künstlernamen Bashō an, das heißt „Bananenstaude“, nach der „Hütte zur Bananenstaude“ in der er etwas außerhalb der Stadt lebte. Bislang einer von vielen, die nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen, wird er langsam bekannter. Immer wieder ist er auf Reisen durch das ganze Land unterwegs, meist zu Fuß, und verbreitet seine Art zu dichten. Eine dieser Reisen beschreibt sein bekanntestes Einzelwerk, das Reisetagebuch Oku no hosomichi („Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“). Er veröffentlichte Sammlungen von Hokku mit seinen Schülern.

Von Bashō sind nur rund tausend Hokku überliefert, er gilt für die Ausbreitung und den Gehalt der Hokku-Dichtung aber als überragend. Das liegt auch an seinen Schülern, von denen einige ganz herausragende Dichter waren und seine Art des Dichtens weiter trugen. Bashō setzte manchen seiner Schüler im Hokku über sich selbst und beanspruchte für sich nur die Meisterschaft im Kettengedicht. Takarai Kikaku (1661-1707), einer dieser großen Schüler, gab die Zahl der Anhänger zum Zeitpunkt von Bashōs Tod mit 2.000 Menschen an, im ganzen Land verstreut. Zwei Beispiele für Bashōs Hokku (beide nach Dietrich Krusche (1994): Haiku, Seite 70 und 79):

Stille!
Der Zikadenlärm dringt
in den Stein.

Vollmond.
Die ganze Nacht ging ich
rund um den Teich.

Nach Jahrzehnten der Stagnation trat mit Yosa Buson (1716-1783) wieder ein überragender Hokku-Dichter auf. Zudem gilt er als einer der bedeutendsten japanischen Maler. Seine Hokku sind denn auch besonders bildhaft. Ein Beispiel (nach Yosa Buson (1992): Dichterlandschaften, Seite 228):

Schlafender Mönch.
Sein Arm leuchtet weiß
in den Frühlingsabend.

Kobayashi Issa (1763-1827) ist der bis heute vielleicht volks­tümlichste Hokku-Dichter. Er war Sohn eines Bauern, wurde mit 14 Jahren als Dienstbote in die Hauptstadt geschickt, kehr­te nach dem Tod des Vaters zurück, war immer arm. Sein Buch Ora ga haru („Mein Frühling“) erzählt sehr persönlich in Prosa und Hokku, auch mit viel Humor, von seinem Leben. Ein Beispiel, geschrieben nach dem Tod seiner geliebten kleinen Tochter (nach Kobayashi Issa (1983): Mein Frühling, Seite 82):

Unsere Welt,
ja, flüchtig wie Tau …
Und dennoch, dennoch!

Inspirierende Zeiten des Aufbruchs mit großen Hokku-Dich­tern werden immer wieder abgelöst von Zeiten der Stagnation und des Niedergangs. Um das Jahr 1900 setzte sich mit Masaoka Shiki (1867-1902) die letzte große Erneuerungs­bewegung des Hokku durch. Shiki lehnte das Kettengedicht ab, griff den inzwischen wie einen Gott verehrten Bashō an und reformierte das Hokku, gab ihm auch einen neuen Namen, nämlich Haiku. Mit seinem Begriff „Shasei“, das bedeutet etwa: „Skizzieren nach der Natur“, betonte er, ange­regt durch europäische Einflüsse, den Realismus im Haiku. Ein Beispiel (nach Thomas Hemstege (2013): Masaoka Shiki, Seite 11):

In der Kneipe
wird wieder laut gestritten.
Verschleierter Mond.

Nach dem Tod Shikis fächert sich die neue Bewegung auf, zunächst unter den beiden wichtigsten Schülern Shikis. Taka­hama Kyoshi (1874-1959) verfolgt eine wieder eher konserva­tive Richtung, Kawahigashi Hekigotō (1873-1937) dagegen eine noch radikalere Richtung mit Aufgabe auch der Morenzahl und des Jahreszeitenworts.

Seitdem bestehen im japanischen Haiku konservative und avantgardistische Strömungen nebeneinander. Die Popularität des Haiku ist unverändert groß. Als Beispiel soll nur noch ein Außenseiter aufgeführt werden, der wandernde Zen-Mönch Taneda Santōka (1882-1940; nach Robert F. Wittkamp (2011): Kiefernwind und grüne Berge, Seite 213):

Auch in den alten Bettelnapf
prasselt der Regen.

Die Welt

Im ersten europäischen Haiku-Kongress, 2005 veranstaltet von der Deutschen Haiku-Gesellschaft in Bad Nauheim, stellte eine Reihe von Vertretern europäischer Haiku-Gesellschaften Situation und Geschichte dieses Gedichts in ihren Ländern vor (Bericht in Volker Friebel & Gerd Börner (2005): Der 1. Europäische Haiku-Kongress). Danach dürfte das erste veröffentlichte Haiku eines Europäers von einem Niederländer stammen, Hendrik Doeff (1777-1835), der in Nagasaki arbeitete.

Angekommen in Europa ist das Haiku aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Vorreiter war Frankreich, wo ab dem Jahr 1903 Haiku geschrieben werden. Ein erstes europäisches Buch nur mit Haiku erschien folgerichtig in Frankreich, alle Haiku darin stammen von einer Bootsfahrt dreier Freunde auf der Seine und ihren Seitenkanälen im Jahre 1905. (Klaus-Dieter Wirth (2014a): Das Haiku in Europa. Erster Teil. In: Som­mergras, Nummer 105, Juni 2014, Seite 13-17.)

Auch deutschsprachige Dichter wurden zunächst von französischen Veröffentlichungen angeregt sowie durch zeit­gleich erscheinende Anthologien japanischer Dichtung auf Deutsch, so etwa Rainer Maria Rilke, der sich mit der Gedicht­form auseinandersetzte und selbst drei Haiku schrieb. (Andreas Wittbrodt (2005): Hototogisu ist keine Nachtigall, ab Seite 176.) Das einzige deutschsprachige davon, in einem Brief übermittelt:

Kleine Motten taumeln schauernd quer aus dem Buchs;
sie sterben heute Abend und werden nie wissen,
daß es nicht Frühling war.

Deutlich näher am Haiku einer seiner französischen Versuche (das ist vielleicht sein allerletztes Gedicht):

Entre ses vingt fards
elle cherche un pot plein:
devenu pierre.

Übersetzt etwa: Zwischen ihren zwanzig Schminktiegeln / sucht sie nach einem vollen Topf: / zu Stein geworden.

Die ersten deutschsprachigen Haiku wurden wohl von Hans Kanzius während eines Japanaufenthalts 1914 bis 1920 geschrieben. Weiter haben Franz Blei (1925) und Yvan Goll (1926 und 1927) Haiku veröffentlicht.

In andere europäische Länder fand das Haiku erst später. Auch in Frankreich und Deutschland gibt es keine kontinuierliche Entwicklung, sondern, vor allem um den zweiten Weltkrieg, Zeiten von Stagnation und Vergessen. Bekannter wurde das Haiku bei uns erst ab 1962 mit der Buchveröffentlichung „Haiku“ der Österreicherin Imma von Bodmershof (1895-1982), die als erste eigenständige Haiku-Autorin deutscher Sprache gilt.

Viel für das Haiku und die japanischen Gedichtformen getan hat Carl Heinz Kurz (1920-1993), ein Schriftsteller, der auf seinen Reisen in Japan dessen Dichtung kennenlernte, in seinem weitläufigen Freundeskreis verbreitete und als Her­ausgeber zahlreiche Anthologien mit Haiku und Ketten­gedichten deutschsprachiger Autoren veröffentlichte. Er regte die Gründung der Deutschen Haiku-Gesellschaft an, die 1988 mit der ersten Präsidentin Margret Buerschaper (1937-2016) zustande kam und die mit ihrer Vierteljahresschrift bis heute eine wesentliche Quelle der Auseinandersetzung um das deutschsprachige Haiku geblieben ist. Mit Entwicklung des Netzes traten um die Jahrtausendwende daneben Online-Foren auf, wegweisend war das 2003 bereits wieder geschlossene HaikuHaiku.de von Hans-Peter Kraus, dem im selben Jahr Haiku-heute.de nachfolgte. (Die Essays von Hans-Peter Kraus zum Haiku finden sich in seiner Sammlung „Das Knospen-Buch“ (2017)).

In die englischspachige Welt gelangte das Haiku 1910 durch eine Anthologie, die von den Imagisten, einer litera­rischen Strömung zwischen 1910 und 1917, aufgegriffen wurde (George Swede (2007): Englische Haiku in Nordamerika.) Zu diesen Dichtern gehörten James Joyce, D.H. Lawrence, Ezra Pound, Carl Sandburg und William Carlos Williams. Sie nahmen aber eher Elemente von Haiku in eigene Dichtung auf, als dass sie Haiku schrieben. Als Haiku am bekanntesten geworden ist ein Text von Ezra Pound:

The apparition of these faces in the crowd;
Petals, on a wet black bough.

Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge;
Blütenblätter auf einem nassen schwarzen Zweig.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde in den USA das Haiku durch ein erwachtes Interesse an der japanischen Literatur neu erweckt. Die vierbändige Anthologie japanischer Haiku mit Kommentaren von R.H. Blyth (erschienen 1949-1952) wurde wegweisend – auch für die Behauptung eines engen Bezugs des Haiku zum Zen. Unter den Schriftstellern der zum Zen-Buddhismus hingezogenen Beat-Bewegung waren Haiku populär, so bei Allen Ginsberg, Gary Snyder und Jack Kerouac. Sommerkamp gibt in ihrer Dissertation (1984) Beispiele dafür, wie Allen Ginsberg Haiku in Gedichte und Jack Kerouac Haiku in sein Prosabuch „Dharma bums“ eingebaut haben. Beide schrieben auch einzelne eigenständige Haiku. Jack Kerouac hatte die Veröffentlichung eines Haiku-Buchs geplant. Seit damals gibt es eine ununterbrochene Reihe von Haiku-Publi­kationen in der englischsprachigen Welt, die allerdings andere Wege gingen als die Beat-Dichter in ihren Texten.

In Südamerika, Afrika und den asiatischen Ländern außer­halb Japans trat das Haiku erst später auf. Inzwischen ist es in wohl fast allen Kulturen der Welt vertreten. In vielen Ländern gibt es nationale Haiku-Gesellschaften, außerdem sind mehrere internationale Haiku-Vereinigungen aktiv.

 


Grundwissen (Übersichtsseite mit Kurzfassung)
Merkmale des Haiku
Kleine Geschichte des Haiku
Haiku und Prosa: Haibun
Haiku und Kettengedicht: Tan-Renga
Haiku und Bild: Haiga
Haiku in Gedichten
Haiku und besondere Orte

Vertiefungen (Auswahl)
Wird ergänzt …

 


Alles angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren. Ein Klick auf die Schaltfläche führt zum Shop des Druckwerks, wo eine Vorschau eingesehen und das Buch bestellt werden kann.