Weshalb Haiku?

Angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren.

 

Die Welt ist groß und vielfältig. Weshalb sollte sich jemand gerade mit dem Haiku beschäftigen? Weshalb sollte jemand selbst Haiku verfassen? Das kann viele persönliche Gründe haben. Fünf Aspekte scheinen mir allgemeingültig.

Achtsam leben. Wir leben die meiste Zeit in unseren Gedanken. Das Gesicht eines telefonierenden Menschen, es hat vor sich zwar nur die leere Luft, die Möbel, die Tapete dahinter – aber es lebt, es strahlt, runzelt die Stirn, lacht, hört amüsiert zu, wird ungeduldig …

Das sind unsere menschlichen Welten, die sich aus der gegenständlichen Welt um uns entwickelt und ein Eigenleben gewonnen haben, das oft interessanter ist als die Wände um oder die Wolken über uns. Diese neuen Welten des Menschen sind eine Bereicherung nicht nur für ihn, sondern auch für die schon vorhandene eine Welt. Wenn der Mensch sich nicht in ihnen verläuft und verliert, wenn er es nicht verlernt, sich immer wieder auch der gegenständlichen Umgebung zuzuwenden, der konkreten Realität um ihn herum, sich ihrer zu vergewissern, sich zu erden an ihr.

Das Haiku weist in dieser Umgebung vor allem auf das ganz Gewöhnliche, Kleine, Alltägliche, Unscheinbare hin. Es beschäftigt sich weniger mit dem Waldbrand aus den Medien oder allgemein mit dem Waldsterben, als mit diesem einen abgestorbenen Baum oder dem Blatt, das sich gerade vom Zweig löst und an meiner Betrachtung vorbeifällt.

Das Große, das Mächtige, das Gewusste, Fantasierte, Erträumte, Befürchtete ist ebenfalls da, hat auch Teil an unserem Leben, scheint uns oft übermächtig. Ihm gegenüber das Kleine, die nächsten Dinge um uns herum mehr zu betonen, ist Achtsamkeit. Das Haiku kann zu ihr beitragen.

Natur zuwenden. Natur tut gut. Natur heilt. Und nicht nur die Seele, es gibt auch Studien zu ihrem günstigen Einfluss auf die körperliche Gesundheit. 1

Hat das mit Entspannung zu tun, die in der Natur am leichtesten fällt? Oder spielt noch anderes eine Rolle? Darüber ist wenig bekannt. Bekannt ist aber die Unverzichtbarkeit von Natur für unser Leben.

Die Hinwendung zur konkreten Umgebung ist oft eine Hinwendung zur Natur. Denn wo wir auch hinschauen, selbst in der Stadt, selbst im Büro, überall finden wir Natur. Die allerdings wenig beachtet wird. Wenn wir sie beachten, sehen wir ihre Schönheit. Das Haiku gewinnt bereits damit eine besondere Beziehung zur Natur, auch wenn es als Literaturform kein Naturgedicht ist.

Bereits das Lesen in und über Natur tut gut. Und wenn wir über etwas lesen, über etwas schreiben, gehen wir eine Beziehung mit ihm ein, werten wir es auf.

Natur aufzuwerten, sich überhaupt mehr mit Natur zu beschäftigen, ist wichtig, ist heilsam, für uns selbst und für die ganze Gesellschaft. Natur ist unsere Lebensgrundlage.

Beziehung eingehen. Nicht nur für Natur gilt: Wenn ich etwas hervorhebe, indem ich es in ein Haiku nehme, erkenne ich etwas von der Verwandtschaft an, die zwischen den Dingen der Welt und diesem sie wahrnehmenden Menschen besteht, die Beziehung zwischen dem Apfel und mir, zwischen dem Flugzeug und den Wolken und mir, zwischen allem, was ist.

Die Beziehung kann gut und heilsam, sie kann problematisch sein. Auch das, was wir durch die Medien aufnehmen, gehört zur Welt, zu unserem Leben. Ein Haiku von Romano Zeraschi:

Kinder kauern sich hin –
ein Kranz aufblitzender Punkte
Streubomben 2

Da wollen wir nicht hin. Aber da sind wir. Wir können das anerkennen oder verleugnen. Um eine Beziehung dazu kommen wir nicht herum. Medienberichte sind nicht die nächsten Dinge um uns. Aber sie sind auch da. Haiku um solche Themen zeigen uns, wo wir sind und wer wir sind.

Haiku schaffen Beziehungen. Über unsere Beziehungen erschaffen wir uns selbst.

Erlebnisse festhalten. Haiku lassen sich in der erlebten Situation notieren. Ein Gedicht oder Prosa wäre zu lang, und diese Länge entmutigt mich im Bus, beim Wandern, bei einer Besichtigung alter Stätten. Aber das kurze Haiku mit seiner Konzentration auf einen Erlebnismoment passt selbst bei einer Alpenüberquerung und im Trubel eines Gangs durch Varanasi.

Das sind dann Notizen, in Haiku-Form, und nur zufällig schon fertige Haiku. Aber sie können es werden. Und alles Geschriebene ist neben Fotos eine Erinnerung.

Haiku erinnern. Festgehaltene Erinnerungen sind unser Leben.

Literatur schaffen. Aus Notizen von unterwegs lassen sich Haiku als Literatur herausarbeiten. Andere Autoren arbeiten ausschließlich literarisch, notieren nichts in der realen Situation, finden, erfinden ihre Haiku im stillen Kämmerlein. Vom Ergebnis her muss sich das von der Bearbeitung von Haiku-Notizen aus tatsächlich erlebten Situationen gar nicht unterscheiden. Literatur kann sich nur vom Ergebnis her definieren, nicht durch die Art und Weise, wie ein Text entstanden ist.

Mit dem Anspruch Literatur zu sein, tritt das Haiku, ob nun persönlich erlebt oder erdichtet, in eine andere Welt, nämlich in die des Lesers. Und es tritt in die Welt all der bereits vor ihm veröffentlichten Texte. Als Literatur hat es sich dann auch am Leser zu orientieren, an der Frage, ob es von anderen Menschen verstanden werden kann, ob es anderen Menschen etwas gibt. Und an den ästhetischen Momenten, die aus der Dichtung vergangener Jahrhunderte im Leser fest geworden sind.

Als Literatur rückt das Haiku weg vom Dichter, es wird zu Kultur und damit zu einem Bestandteil dessen, was andere Menschen, was alle Menschen beeinflusst und inspiriert.

Das sind mir die wesentlichen allgemeingültigen Aspekte, weshalb die Beschäftigung mit Haiku sich lohnt, die ersten drei betreffen Leser und Autoren, die beiden folgenden nur Autoren. Weitere, persönliche Gründe mögen hinzukommen.

In die westliche Literatur hat das Haiku ein Spüren auf den Augenblick gebracht, was wir unliterarisch als Achtsamkeit kennen.

Und das Haiku bringt in die Literatur ein Spüren auf unsere Einbettung in die übersoziale Welt, die Natur.

Achtsamkeit und die Beziehung zur Natur sind mir die wichtigsten Einflüsse des Haiku auf mein eigenes Leben. Sie sind aber nicht nur persönlich wünschenswerte Ergebnisse der Beschäftigung mit dem Haiku. Sie sind Erfordernisse unserer Zeit. Sie zu fördern heißt für mich, eine bessere Welt zu fördern.

Eine bessere Welt, in der Natur keine Fürsprecher braucht, weil wir selbst die Natur sind, die wir so lange von uns getrennt und als Fremdes vor uns gestellt haben, um sie erst auszubeuten und dann aus denselben eigensüchtigen Gründen zu retten. Ein anderes Verhältnis nicht nur zu Natur, auch zu allen anderen Dingen um uns, den einfachen Gegenständen der Wohnung, den Büchern im Regal, ja, auch zur Spinnenwebe in der Zimmerecke, etwas mehr Achtung und Zuneigung auch für den tanzenden Staub … Das zu fördern finde ich gesellschaftlich wesentlich wichtiger als alles, was durch die Medien geht.

Im Gedicht spreche ich selbst. Die Dinge sprechen zu lassen, die Natur in uns und um uns, nicht nur sich selbst, kann besonders das Haiku.

 

1Ausführlich in Antje Flade (2018): Zurück zur Natur?
2Haiku-Jahrbuch 2018: Morgennachrichten, Seite 83.

 


Grundwissen (Übersichtsseite mit Kurzfassung)
Merkmale des Haiku
Kleine Geschichte des Haiku
Haiku und Prosa: Haibun
Haiku und Kettengedicht: Tan-Renga
Haiku und Bild: Haiga
Haiku in Gedichten
Haiku und besondere Orte

Vertiefungen (Auswahl)
Weshalb Haiku?
Ästhetische Momente 1
Ästhetische Momente 2
Ästhetische Momente 3

 


Alles angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren. Erhältlich im Buchhandel und in den Versanden. Ein Klick auf die Schaltfläche führt zum Shop des Druckwerks, wo eine Vorschau eingesehen und das Buch bestellt werden kann.