Haiku-Preis 2024

Nach Beseitigung einiger ungültiger Texte gingen 173 Haiku von 93 Autoren ein. Die Auswahl traf Angelica Seithe ohne Kenntnis der Autorennamen. Die Koordination leistete Volker Friebel. Den Preisträgern unsere Glückwünsche, auch allen anderen sei Dank für ihre Teilnahme.

Der Haiku-Preis ist dieses Jahr der Frankfurter Haiku-Dichterin und Ikebana-Meisterin Erika Schwalm gewidmet.

Zunächst die drei ersten Plätze, wobei der dritte doppelt belegt ist. Dann alle 12 ausgewählten Texte (auch der zehnte Platz ist doppelt belegt). Angelica Seithe schrieb zur ganzen Auswahl eine Würdigung und zu jedem ausgewählten Text einige Zeilen.

Platz 1

Vogelstimmen
Aus den Abendwolken
erhebt sich der Mond

Michael Rasmus Schernikau

Platz 2

Dauerregen
das Klatschen der Skatkarten
immer lauter

Elisabeth Weber-Strobel

Platz 3 (geteilt)

möwennachwuchs
mein fischbrötchen
lernt fliegen

Tobias Tiefensee

Platz 3 (geteilt)

einsamer Hafen …
nur die lachenden Möwen
im Winterwind

Benjamin Bläsi

Würdigung

Bei 173 Haiku, unter denen ich eine so kleine Auswahl zu treffen hatte, bleiben zwangsläufig viele gute Haiku auf der Strecke. Und dennoch gibt es einige, auf die ich schon beim allerersten Lesen stärker reagiert habe. Das mag teilweise an ihren Motiven liegen, teilweise auch an ihrer Bildhaftigkeit und an den musikalischen Qualitäten ihrer Sprache: dem Rhythmus sowie den Anklängen der Vokale und Konsonanten. Nicht zuletzt auch an dem, was jedes gute Haiku ausmachen sollte: Kürze, Gegenwärtigkeit, Konkretheit und Offenheit.

So entstand eine Vorauswahl, die dann noch einmal gezielt auf die sprachliche Qualität hin angeschaut und analysiert wurde.

Dabei hat sich gezeigt, dass einige Texte dieser Vorauslese der Jurorin näherstehen als andere. Sie rühren an vertraute Stimmungen, wecken persönliche Erinnerungsbilder und rufen private Assoziationen auf. Ich bin von ihnen in besonderer Weise bewegt, inspiriert und habe beschlossen, diese Haiku zu kommentieren, um mir über die Resonanz, die sie in meinen Gefühlen und Gedanken hervorrufen, klar zu werden.

So entstand die folgende Auswahl.

1

Vogelstimmen
Aus den Abendwolken
erhebt sich der Mond

Michael Rasmus Schernikau

Eine Abendstimmung, wunderbar eingefangen durch akustische und visuelle Sinneswahrnehmungen, und sprachlich untermalt von Vokal-Anklängen (Wolken/Mond, aus/Abend). Das tragende Wort ist ‚erhebt‘: Aus etwas Leichtem, aus den Wolken, ‚erhebt sich der Mond‘. Das gibt der Abendstimmung ihren erhabenen Akzent, hebt sie hinaus übers Alltägliche.

Dabei wirkt der Text schlicht. Doch es ist, scheint mir, als wenn etwas Leichtes, Aufwärtsstrebendes sich auch im Leser vollzieht.

 

2

Dauerregen
das Klatschen der Skatkarten
immer lauter

Elisabeth Weber-Strobel

Ich bin keine Skatspielerin, aber das Klatschen der Skatkarten konnte ich hören. Geschickt, wie hier das Geräusch der Spielkarten das klatschende Geräusch des Regens ersetzt und zu übertönen sucht. Geschickt auch, wie die leicht aggressive Fruststimmung bei Dauerregen indirekt, ohne überhaupt erwähnt zu werden, ihren Ausdruck findet. Nicht nur durch das immer lauter werdende Klatschen der Karten, sondern auch sprachlich durch die Konsonanten-Anklänge auf k (Klatschen/Karten).

 

3 (geteilt)

möwennachwuchs
mein fischbrötchen
lernt fliegen

Tobias Tiefensee

Das lustige Haiku lebt vom Humor.

Effektiv und sprachlich kunstvoll wird in gekonnter Verknappung auf einen Vorgang hingewiesen, dessen eigentliche Schilderung ausbleibt. Der Leser erfährt nur das Resultat, weiß aber sofort, was passiert ist. Der vorher lakonisch erwähnte ‚Möwennachwuchs‘ gibt Aufschluss.

Das Haiku kommt gewitzt daher. Anstatt über sein Missgeschick zu schimpfen, biegt der menschliche Pechvogel es in eine Pointe um: das ‚fischbrötchen lernt fliegen‘. Den Leser amüsiert es, den Haiku-Dichter sicher auch.

 

3 (geteilt)

einsamer Hafen …
nur die lachenden Möwen
im Winterwind

Benjamin Bläsi

Das Haiku vermittelt auf eindrückliche Weise eine von Kälte und Einsamkeit geprägte Stimmung. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass er sich auf einen Hafen bezieht, in dem normalerweise große Betriebsamkeit herrscht (abfahrende und ankommende Schiffe). Das ‚Lachen‘ der Möwen setzt der Einsamkeit einen bitteren, fast höhnischen Akzent entgegen. Eine in hohem Maße unwirtliche Winterstimmung, nachvollziehbar und ausdrucksstark.

 

Plätze 4 bis 10 (der zehnte Platz ist doppelt besetzt)

 

winterroter Ahorn –
tiefer und tiefer die Stille

Angela Schmitt

Ein Haiku, das ganz Atmosphäre ist, eindrucksvolle Naturstimmung, die sofort anspricht. Eigentlich ist es ein Herbstbild, denn selbst der japanische tiefrote Ahorn wirft spätestens im Winter sein Laub ab. Aber der knappe Text lebt nicht nur vom roten Farbeindruck, der mit der immer tiefer werdenden Stille kontrastiert, sondern auch vom Wort ‚winter‘, das der Farbe Rot beigefügt ist. Mit ‚herbstrotem‘ Ahorn würde das Haiku nicht funktionieren, jedenfalls nicht annähernd so eindrucksvoll wie mit ‚winterrot‘. Denn die Stille, die tiefe Stille, ist die des Winters.

 

Wie weit ich auch lauf‘,
keine meiner Spuren bleibt –
leise fällt der Schnee.

Sabine Sommerkamp

Hier geht ein existenzielles Thema, nämlich die Frage, was wird von mir bleiben, stimmig in einem Naturbild bzw. einem vom Menschen erlebten Naturvorgang auf. Das Bild benötigt keinen sprachlichen Vergleich, keinen vermittelnden Hinweis auf eine dahinter liegende Bedeutung. Es leuchtet ein, vielleicht weil das Wort ‚Spuren‘ die doppelte Ebene bereits in sich trägt.

Ein formal von der Silbenzahl klassisch gehaltenes Haiku; deshalb die verkürzte Form lauf‘ statt laufe. Aber man hört den Schnee leise fallen.

 

Wohnzimmerstille
Großmutters Blick
aus der Glasvitrine

Jutta Petzold

Ein originelles und eindrucksvolles Haiku.

In der Stille eines altmodischen Wohnzimmers blickt uns aus der Vitrine die Großmutter an. Was ihr Blick sagt, bleibt offen und für den Leser ausdeutbar. Die vielen hellen Vokalanklänge auf i (Zimmer/Stille/Blick/Vitrine) legen aber einen eher freundlichen, nicht etwa düsteren Ausdruck im Gesicht der alten Frau nahe.

 

Präludium –
das Morgenlicht
hinter dem Maisfeld

Lisa F. Oesterheld

Die Morgenstimmung bringt zwei Erlebnisbereiche zusammen: den der Musik und den des Lichts, einen akustischen und einen visuellen Sinneseindruck. Das Ganze hinter der banalen Alltagskulisse eines Maisfeldes. Die Alliteration auf m (Morgen/Mais) unterstreicht den musikalischen Eindruck dieses Vorspiels aufsteigenden Lichts.

 

Auf dem Land –
die erhabene Ruhe
alter Eichen

Lisa F. Oesterheld

Das Haiku vermittelt eine Stimmung großer Ruhe und Schönheit. Das gelingt überzeugend durch eine einfache Sprache, die fast unbemerkt auf Assonanzen setzt (Vokal-Anklänge auf a).

 

Feierabend.
Das Dämmerlicht löscht
die Zeit auf der Turmuhr.

Reinhard Dellbrügge

Das Haiku malt in schönem Rhythmus eine Feierabendstimmung. Das Dämmerlicht löscht nicht das Zifferblatt der Turmuhr, sondern die Zeit. Es bleibt offen, ob dies für den, der es erlebt, Gutes oder Schlechtes zu bedeuten hat. Diese Offenheit und die Konsonanten-Anklänge (Licht/löscht) machen den Vorgang besonders eindrücklich.

 

Mondfinsternis
das rote Kleid
das du trugst

Frank Dietrich

Das Rot des Kleides, ein eindrücklicher Farbakzent, möglicherweise erotisch konnotiert, steht neben der ‚Mondfinsternis‘ (Juxtaposition). Hierbei dürfte an den Blutmond zu denken sein, wie er bei der überschatteten Mondscheibe entsteht. Der Leser fragt sich, ob die Verschattung des Mondes auf den Verlust eines geliebten Menschen hindeutet (‚trugst‘), oder ob die durch den Blutmond hervorgerufene Erinnerung an das rote Kleid eine durchaus erfreuliche ist. Das Haiku lässt es offen.

 

Winterwald
ich folge dem Klang
der Stille

Eleonore Nickolay

Gang durch den Winterwald, kein Vogel, kein Laut, Stille. Aber die Stille, die Abwesenheit aller Geräusche ist so intensiv, dass sie selbst zum Klang wird, zum Klang des Winterwalds, dem das lyrische Ich folgt.

Durch wenige Worte entsteht im Text eine intensive Stimmung, vermittelt auch durch akustische Sinneseindrücke und anklingende Vokale: a und i (Wald/Klang, Winter/Stille).

 

 

Abschließend möchte ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern meinen herzlichen Dank dafür aussprechen, dass ich mit Texten, die Ihnen vielleicht sehr nahestehen, meinerseits so persönlich und auch durchaus kritisch umgehen durfte. Es hat mir Freude gemacht.

Angelica Seithe

 

Die Ausschreibung

Folgende Ausschreibung lag dem Haiku-Preis 2024 zu Grunde:

Haiku heute schreibt das sechste Jahr einen Haiku-Preis aus.

Modalitäten: Die Teilnahme ist frei. Jeder Autor kann ab sofort bis einschließlich 31.10.2024 bis zu zwei eigene Haiku in deutscher Sprache einreichen, die bisher nicht öffentlich geworden sind. Diese sollten bis zum 30.11.2024, dem Abschluss der Auswahl, nirgendwo veröffentlicht werden. Das Thema der Texte ist frei. Ein Haiku sollte aus möglichst nicht mehr als drei Zeilen und möglichst nicht mehr als 17 Silben bestehen. Die Haiku können nur online auf dem für den Haiku-Preis vorgesehenen Formular unten eingereicht werden.

Auswahl: Die Auswahl der Haiku trifft Angelica Seithe. Auf ihrer Präsenz einiges zu ihrer Person: https://www.angelica-seithe.de/. Kurzgedichte von ihr finden sich in allen Haiku-Jahrbüchern ab 2012.

Gewinn: Die Bestplatzierten erhalten Zertifikate ihres Abschneidens.

Koordination: Die eingereichten Haiku sammelt Volker Friebel, der selbst keine Haiku einreicht.

Rechte: Die Rechte an allen Haiku bleiben bei ihren Autoren. Bei ausgewählten Haiku nimmt Haiku heute die nicht-exklusiven Veröffentlichungsrechte von Haiku und Autorenname für seine Seiten in Anspruch sowie für einen Bericht zum Haiku-Preis, der auch an anderen Stellen und in anderen Medien erscheinen kann, sowie für das Haiku-Jahrbuch und eine von Volker Friebel zusammengestellte Anthologie des deutschsprachigen Haiku (Papierdruck und elektronische Ausgaben). Die Autoren von ausgewählten Haiku können ihre Texte nach Veröffentlichung des Ergebnisses weiterhin frei verwenden.

Widmung: Der Haiku-Preis bietet Gelegenheit, auf besondere Personen der Haiku-Dichtung hinzuweisen. Im Jahr 2024 ist der Preis Erika Schwalm (1941-2005) gewidmet. Sie lebte in Frankfurt am Main, war international anerkannte Ikebana-Meisterin, Gründerin des Frankfurter Haiku-Kreises und Gründungsmitglied der Deutschen Haiku-Gesellschaft. Hier ihre Gedächtnisseiten auf Haiku heute.

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