Angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren.
Besondere Orte, zu denen Gedichte erhalten sind, werden im Japanischen Utamakura genannt. Uta heißt Gedicht, Makura Kopfkissen, zusammen lässt es sich übertragen als Gedicht-Kopfkissen. Gemeint sind bekannte Orte, die von früheren Gedichten so vertraut und so wert gemacht wurden, dass man sein Haupt hier wie auf einem Kopfkissen betten kann. Und vielleicht ein neues Gedicht hinzufügt.
In Japan hat es Tradition, zu solchen besonderen, schon früher bedichteten Orten zu wandern und sie neu zu erleben. Bashōs Buch „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ ist der Bericht einer solchen Dichterreise.
Auch die europäische Kultur kennt solche Reisen. Es ist der Pilgerweg. Traditionell stehen hier nicht Schönheit und Dichtung im Vordergrund, sondern der Versuch, dem Göttlichen nahe zu kommen oder ein Gelübde zu erfüllen, durch die Anstrengung einer Reise zu heiligen Stätten.
In der Hochzeit des Glaubens durchzog ein Netz von viel begangenen Pilgerwegen Europa. Mit der Säkularisierung verfiel es zunächst, die Flüsse der Pilgerwege wurden zu Rinnsalen – um dann wieder anzuschwellen. Heute sind die Herbergen des Jakobswegs überfüllt.
Für einige Pilger geht es wie damals um Glaubensfragen. Die große Mehrzahl hat andere Gründe für ihre Pilgerschaft, sie will sich über persönliche Fragen in der Zeit und Ruhe des Wanderns klar werden, will über ein einschneidendes Ereignis hinwegkommen oder einfach Natur erleben.
Auch Reisen zu besonderen Orten und Landschaften sind beliebt geworden, sei es der Kultur und Geschichte oder der Natur wegen. So liegt es nahe, dass sich auch bei uns ein Gedächtnis an Gedichten aufbauen wird, die an besonderen Stätten entstanden sind oder sie zum Thema haben.
Neben größeren Wanderungen gibt es den Haiku-Spaziergang, japanisch Ginko. Dazu treffen sich Dichter an einem Ort, spazieren ein Stück gemeinsam oder getrennt, notieren dabei Texte, die sie anschließend in geselliger Runde vorlesen und kommentieren. Oder gegenseitig anonym bewerten.
Das Ergebnis solch eines spontanen Dichtens muss nicht immer ganz überzeugen. Wichtiger sind das Zusammenkommen und einander im Dichten begegnen. Nach einem solchen Haiku-Spaziergang im Kurpark Wiesbaden anlässlich des Treffens der Deutschen Haiku-Gesellschaft 2015 gab es eine Flasche Haiku-Wein für den Sieger-Text (von Volker Friebel in Sommergras, Nummer 110, September 2015, Seite 28):
Fontäne.
Ein Mädchen rudert das Boot
in den Regenbogen.
Zwischen Haiku und Wandern besteht eine natürliche Beziehung. Bei beiden sind Ort und Zeit besonders präsent. Ich stehe jetzt, gerade jetzt an diesem Fluss, auf der Spitze jenes Berges, in der berühmten Ruine, am Grab eines Dichters. Es ist die Gegenwart, in der ich wandere. Es ist die Gegenwart, in der sich das Haiku ereignet.
Zudem wandern die Füße. Der Kopf hat frei. Da mag er sich in Gedankenkreisen verlieren – oder die Welt wahrnehmen.
Gedichte sind lang, für unterwegs vielleicht zu lang. Ein Haiku ist kurz genug, um ganz präsent zu sein, beim Gehen hin und her bewegt zu werden. Daheim die Augen am Schreibtisch mögen es dann zu Literatur machen – vielleicht.
Grundwissen (Übersichtsseite mit Kurzfassung)
Merkmale des Haiku
Kleine Geschichte des Haiku
Haiku und Prosa: Haibun
Haiku und Kettengedicht: Tan-Renga
Haiku und Bild: Haiga
Haiku in Gedichten
Haiku und besondere Orte
Vertiefungen (Auswahl)
Weshalb Haiku?
Ästhetische Momente 1
Ästhetische Momente 2
Ästhetische Momente 3
Alles angepasst aus dem Buch: Volker Friebel (2019): Das Haiku. Grundwissen – Vertiefungen – der Horizont. Edition Blaue Felder, Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte der zitierten Haiku liegen bei ihren Autoren. Erhältlich im Buchhandel und in den Versanden. Ein Klick auf die Schaltfläche führt zum Shop des Druckwerks, wo eine Vorschau eingesehen und das Buch bestellt werden kann.