und Haiku-Besprechung
von René Possél
Nicht einmal Worte
vertreiben
unser Schweigen
Arin Winter
Das Türchen
zum Garten – endlich
knarrt es wieder!
Angela Schmitt
das Grab neu bepflanzen
Schorf
auf einer alten Wunde
Stefanie Bucifal
Heimkehr –
still überquert eine Träne
ihr Lächeln
Alexander Groth
im garten
wie das licht
mich aufnimmt
Michaela Kiock
jahrestag der befreiung
so viele gräber
Hans-Ulrich Gosmann
Seit er lächelt
ist er mein bester Freund
der Spiegel im Flur
Dieter Gebell
zwei alte Freunde
kein Wort
zur Inkontinenz
Marie-Luise Schulze Frenking
Warten am Bahnsteig
auf das Untergehen
der Sonne
Mira Speier
Sankt Valentin
sie macht ein Foto der Rosen
auf dem Markt
Eleonore Nickolay
Im Februar 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 414 Kurzgedichte von 76 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Nicht einmal Worte
vertreiben
unser Schweigen
Arin Winter
Sechs Worte hat dies Haiku im Stil des sog. „running through“, d.h. es gibt keine Zäsur nach einer oder zwei Zeilen. Ein einziger Satz, der über drei Zeilen geht, setzt die harte und hier weiter nicht erklärte These: „Nicht einmal Worte vertreiben unser Schweigen“!
Formal geschickt stehen sich „Worte“ und „Schweigen“ in der ersten und dritten Zeile am Ende gegenüber. In der Mittelzeile erscheint, quasi als Scharnier und in beide Richtungen denkbar, das Wort „vertreiben“. Worte können das Schweigen vertreiben – das Schweigen wiederum vertreibt die Worte.
Das Haiku provoziert Fragen:
Was hat das gemeinsame („unser“) Schweigen hervorgerufen?
Gab es bereits andere Versuche, das Schweigen zu „vertreiben“?
Bedeutet „vertreiben“, dass beide das Schweigen loswerden wollen?
Gibt es Situationen, in denen nicht einmal Worte mehr helfen können?
Gibt es ein Schweigen, das auch nach vielen Worten noch anhält?
Man könnte eine Geschichte ersinnen oder an eine Situation denken, da das Schweigen nach den Worten zunächst unvertreibbar lastet: Gab es Streit, Unstimmigkeit, Missverständnis, gar Verletzung …?
Ist dies ein pessimistisches Haiku oder eher ein (vorläufiger) Akt der Verzweiflung, da beide nicht wissen, wie es weitergehen soll? Zweifelt der Autor/die Autorin an der Macht und Versöhnungskraft der Worte? Hat er/sie eine Erfahrung gemacht von der Übermacht des Verstummens, des „persistierenden Schweigens“?
Oder ist (optimistisch) das richtige Mittel noch nicht gefunden, das auch dies Schweigen zuletzt brechen kann? Wer sagt denn, dass es Worte sein müssen?!