Top-Extra März 2023

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Nicht einmal Worte
vertreiben
unser Schweigen

Arin Winter

 

Das Türchen
zum Garten – endlich
knarrt es wieder!

Angela Schmitt

 

das Grab neu bepflanzen
Schorf
auf einer alten Wunde

Stefanie Bucifal

 

Heimkehr –
still überquert eine Träne
ihr Lächeln

Alexander Groth

 

im garten
wie das licht
mich aufnimmt

Michaela Kiock

 

jahrestag der befreiung
so viele gräber

Hans-Ulrich Gosmann

 

Seit er lächelt
ist er mein bester Freund
der Spiegel im Flur

Dieter Gebell

 

zwei alte Freunde
kein Wort
zur Inkontinenz

Marie-Luise Schulze Frenking

 

Warten am Bahnsteig
auf das Untergehen
der Sonne

Mira Speier

 

Sankt Valentin
sie macht ein Foto der Rosen
auf dem Markt

Eleonore Nickolay

 

Im Februar 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 414 Kurzgedichte von 76 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Nicht einmal Worte
vertreiben
unser Schweigen

Arin Winter

 

Sechs Worte hat dies Haiku im Stil des sog. „running through“, d.h. es gibt keine Zäsur nach einer oder zwei Zeilen. Ein einziger Satz, der über drei Zeilen geht, setzt die harte und hier weiter nicht erklärte These: „Nicht einmal Worte vertreiben unser Schweigen“!

Formal geschickt stehen sich „Worte“ und „Schweigen“ in der ersten und dritten Zeile am Ende gegenüber. In der Mittelzeile erscheint, quasi als Scharnier und in beide Richtungen denkbar, das Wort „vertreiben“.  Worte können das Schweigen vertreiben – das Schweigen wiederum vertreibt die Worte.

Das Haiku provoziert Fragen:
Was hat das gemeinsame („unser“) Schweigen hervorgerufen?
Gab es bereits andere Versuche, das Schweigen zu „vertreiben“?
Bedeutet „vertreiben“, dass beide das Schweigen loswerden wollen?
Gibt es Situationen, in denen nicht einmal Worte mehr helfen können?
Gibt es ein Schweigen, das auch nach vielen Worten noch anhält?

Man könnte eine Geschichte ersinnen oder an eine Situation denken, da das Schweigen nach den Worten zunächst unvertreibbar lastet: Gab es Streit, Unstimmigkeit, Missverständnis, gar Verletzung …?

Ist dies ein pessimistisches Haiku oder eher ein (vorläufiger) Akt der Verzweiflung, da beide nicht wissen, wie es weitergehen soll? Zweifelt der Autor/die Autorin an der Macht und Versöhnungskraft der Worte? Hat er/sie eine Erfahrung gemacht von der Übermacht des Verstummens, des „persistierenden Schweigens“?

Oder ist (optimistisch) das richtige Mittel noch nicht gefunden, das auch dies Schweigen zuletzt brechen kann? Wer sagt denn, dass es Worte sein müssen?!

 

Zur Monatsausgabe