Zur Poesie eines Einwortgedichts

Beate Conrad

 

Cor van den Heuvel veröffentlichte sein wohl berühmtestes Einwortgedicht erstmals 1963. Es erschien später in verschiedenen Anthologien und wurde somit gewissermaßen als Haiku akzeptiert. Natürlich nicht ohne vielerlei Debatte.

Cor van der Heuvel* selbst sagte über sein Gedicht: „Es ist, was es ist: eine plane oder wellige Ebene, die für arktische oder subarktische Regionen charakteristisch ist. Am wichtigsten ist jedoch, daß sie allein im Kopf oder mitten auf einer ansonsten leeren Seite zu sehen und mit einer Jahreszeit auszumalen ist, vorzugsweise im Frühling, wenn es ständig grüne Gräser, Blumen, Vögel (mit ihren Nestern und Eiern) herangeweht, dann auch Insekten ; oder im Winter, wenn alles mit endlosen Schneeverwehungen bedeckt ist. Zu sehen, wie sich die Weite des Wortes vom Wort über die Seite und über die ganze Welt ausbreitet. Und den Klang davon zu hören. Das Wort.“

                                      Tundra

So kann man es ausdrücken, und es paßt ganz gut zum Zeitgeist der Moderne und Postmoderne, insbesondere der bildenden Kunst. Da waren riesige Leinwände mit praktisch immer weniger drauf beliebt. Gar die bloße Leinwand an sich, oder eine Leinwand schlicht mit Weiß auf Weiß. Und derartiger Minimalismus hat auch etwas sehr Ästhetisches für sich in der bildenden Kunst.

Doch wie funktioniert ein solcher Minimalismus im Gedicht, also bei diesem Gedicht? Wird das Wort mit unserem Wissen über die Tundra einfach ausgefüllt? Und mal ehrlich, hat jemand unter uns die nördlichen Tundras über die Dauer der verschiedenen Jahreszeiten erlebt? Wissen wir wirklich, also spüren wir authentisch die Jahreszeiten dieser besonderen Regionen auf der Nordhalbkugel? Sind wir davon bewegt? Auch wenn es uns möglich ist, für relativ erschwingliche Preise fast die ganze Welt zu bereisen, so glaube ich kaum, daß es sich mit unseren Erfahrungen so verhält wie oben angegeben. Also importiert die weiße Papierleinwand nun tatsächlich die Jahreszeiten einer Region, die wir kaum je erlebt haben? Berührt allein dieses Bild der Unbestimmtheit oder eines Lexikonwissens uns tatsächlich? Selbst wenn wir uns mit bester Imagination einen so weltabgewandten Ort vorstellten, fühlen wir das entsprechend in uns? Oder verhält es sich eher so, daß uns gesagt wird, dieses ku habe etwas für sich? Abgesehen davon, daß es avantgardistisch und schon allein deshalb irgendwie cool zu sein hätte?!

Um nicht mißverstanden zu werden, es ist ein „cooles“ Gedicht, nicht nur wegen der Tundra-Temperaturen. Doch die Gründe seines Gelingens scheinen mir etwas andere zu sein. Dabei ist es völlig unerheblich, ob dieses eine Wort auf einem Blatt Papier nun ein Haiku ist oder nicht. Poesie hingegen geht über das bloße Bild auf einer riesigen, ansonsten weißen Leinwand hinaus. Denn die freie Assoziation des Betrachters allein ergäbe kaum eine gute Poesie.

Andererseits spielten die Geräusche des Windes, der Flora, Fauna und der eisigen Kälte mit Sicherheit eine Rolle bei der Entstehung des Wortes „Tundra“, da es aus der Erfahrung der damaligen Menschen stammt. Von Menschen, die dort früh- oder gar urzeitig gelebt haben. Und das bringt uns dem Charakter, dem Kern des Gedichts und seiner Poesie näher. Denn wir wissen und verstehen nicht wirklich, was Tundra ist oder heißt, ohne seinen fast archaischen Klang. Wir fühlen uns von der Musik dieses Wortes berührt. Versuchen wir selbst einfach die Vokale von einem tiefen, lang anhaltenden [u.:] zu einem [a:] langsam zu intonieren. Allein diese beiden Urklänge im leeren Raum erzeugen ein tieferes Gefühl. Beginnen wir einzeln einen vokalverändernden Konsonanten [tu => tun] im Tönen hinzuzufügen; ebenso für [ra: => dra:]. Gleiten wir langsam lautend von der ersten zur zweiten Silbe. Es mag, je nach Sprache, Varianten in der Tönung geben, aber das ist der mythische Klang unserer Vorfahren, bevor sich die Sprache entwickelte, wie wir sie heute kennen. Und das ist es, was uns immer noch berührt, wenn wir unsere Augen schließen und den Klang in uns einfach tönen lassen. Diesen Klang haben wir Menschen überall auf der Welt immer noch in uns. Er ist die Erfahrung, die uns bewegt und zeitlos überall verbindet, ohne zu verstehen, aber tief zu empfinden. In diesem Moment steht die Zeit still und wir sind Teil der Ewigkeit.

Für das vollständige Gedicht haben wir somit die ersten beiden Teile des Dreiklangs, die beiden sich langsam und magisch füllenden zwei Silben von „Tun-dra“. Sie sind es, die drittens die Bilder der Vorstellung anregen und mit dem Lautgleiten jahreszeitlich, also in der Stimmung wandeln und so die papierne Leinwand füllen. In diesen Klangimplikationen liegt für den hörenden, lesenden Betrachter die konkret erfahrbare Schönheit, die Poesie des Gedichts (Melopoeia), die ihn schließlich die eigene in der kollektiven Beziehung von Existenz und Landschaft erahnen läßt und ihn tiefer als jedes Wissen und Verstehen berührt.

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*https://wkdhaikutopics.blogspot.com/2009/04/tundra.html

Dieser Artikel von Beate Conrad erscheint auf Deutsch und Englisch auch in Chrysanthemum, Ausgabe 31 (Herbst-Ausgabe 2023). Besten Dank für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.