Wandern und Haiku

Ein Seminar Anfang November 2015 im Kloster Kirchberg
Volker Friebel

 

Vom Kloster die Kette der Fischteiche abwärts ins Tal, an leeren Holzsammelstellen vorbei, die Stufen der Himmelsleiter hinauf in den Wald auf der anderen Talseite, von den Rastbänken ein Blick über das weite Land: die Ebene vor der Schwäbischen Alb, die schroffe Linie des Albtraufs, Schloss Hohenzollern scheint an diesem wunderbar klaren Novembertag ganz nahe zu sein. Weiter am jüdischen Friedhof – zerfallende Stelen im auferstandenen Wald – alte Steine berühren, fremde Schriftzeichen und Moos. Eine Frau breitet die Arme im Blätterwind … Wir wollen immer Blätter fangen, aber der Wind nimmt sie mit, und uns selbst auch.

Wir waren 15 Haiku-Freunde und gemeinsam drei Tage lang um Kloster Kirchberg bei Haigerloch unterwegs. Wie kann man sich dem Haiku nähern? Die großen Wanderer des Haiku, Basho und Santoka, sicher lächelten sie in ihrem Himmel freundlich über unsere Annäherungsversuche zu Fuß.

Wer sitzt an einem sonnigen Novembertag bei 20 Grad Celsius gern im Konferenzraum? Schnell ein paar Bänke um den Sandkasten im Klostergarten gestellt, dort lasen wir unsere Notizen von unterwegs und besprachen sie. Manche von uns beschäftigten sich zum ersten Mal mit dem Haiku, andere seit Jahrzehnten – aber vor der Wirklichkeit der Wolken, des Herbstlaubs oder eines Marienkäfers, der vom Grashalm in den Himmel auffliegt, wird das bedeutungslos.

So etwas geschieht, wenn das Haiku lebendig zu werden beginnt, wenn alle Vergangenheit, alles vermeintliche Wissen blass und unwichtig wird und nur noch die Gegenwart da ist, nicht im Grübeln, sondern in den konkreten Erscheinungen, wenn die ein Gegenüber werden, mit einem Gefühl, es fehle nur noch ganz wenig, dass sie zu reden beginnen.

Am letzten Morgen ging ich allein in der Dämmerung an den Weiden vorbei die Kuppe über dem Kloster hinauf. Eine Kuh stand starr und schaute zu der Stelle am Horizont, wo bald die Sonne erscheinen sollte. Vögel begannen einander in den schwarzen Bäumen hinter der Wiese zuzurufen. Am halben Himmel grasten erleuchtete Schäfchenwolken.

Mir war vom Aufstieg so warm, dass ich mein Hemd auszog. Das Wissen um die Erderwärmung und ihre Folgen war da, aber die Schönheit auch. Und sie war so stark wie der Himmel, der nichts tut und durch den alles geschieht. Und sie war so hell wie die Sonne, die nichts tut und aus der alles Leben sich selbst erschafft. Und sie war so lebendig wie das Leben ringsum, das in allen Verwandlungen immer es selbst bleibt und zu jubeln nicht aufhören kann.

Ich bückte mich und las hier auf dem Berg aus der Erde die versteinerte Muschelschale eines abgeflossenen Meeres. Und als ich die Augen schloss, da hörte ich einen Nachhall des Jubels auch noch in ihr.

Ein Termin für den nächsten Herbst steht schon fest.

Novemberhimmel.
Vögel bezirzen
den Sonnenaufgang.