Der Geschmack des Tanka

Ingrid Kunschke im Gespräch mit Udo Wenzel

 

Udo Wenzel: Liebe Ingrid, du schreibst seit dem Jahr 2000 Haiku und Tanka. Deine Website www.ingrids-haiku.de war eine der ersten Seiten im Internet, die die Entwicklung des deutschsprachigen Haiku begünstigten. 2004 gabst du die zwar aktualisierungsbedürftige, aber doch sehr gut gemachte Site auf zugunsten einer, die nur auf das Tanka spezialisiert ist: www.tankanetz.de ist seitdem wohl die informativste Website, die im deutschsprachigen Raum zum Thema Tanka zu finden ist. Was hat dich bewogen, dich auf die kurzen Formen japanischer Lyrik zu spezialisieren?

Ingrid Kunschke: Das hat sich so ergeben. Ich bin neugierig auf sie gewesen, habe gemerkt, wie viel Freude diese Gedichtformen mir bereiten, und festgestellt, dass sie zu meinem Naturell passen. Ich mag reduzierte, schlichte, klare Formen – nicht nur in der Lyrik. Was mich für Haiku und Tanka einnimmt, ist zunächst einmal, dass sie einem äußerste sprachliche Verdichtung und Genauigkeit abverlangen. Hinzu kommen beim Haiku diese gewisse Leichtigkeit und ein unvoreingenommener Blick. Am Tanka schätze ich das Liedhafte und die Struktur, die für eine gedankliche oder intuitive Erfassung von Gefühlsregungen und Begebenheiten wie geschaffen ist. Das Tanka kann bei aller Kürze flüchtige Stimmungen in ihrer Komplexität festhalten und auch eher vage Zustände zur Geltung kommen lassen. Lyrische Prosa, Sequenzen, Tanrenga, Scherzlieder, Kettendichtung und, über letztere, schließlich auch das Haiku sind aus ihm hervorgegangen.

Das Tanka hat sich trotz seines hohen Alters also als sehr wandlungsfähig und vielseitig einsetzbar erwiesen. Es ist, salopp gesagt, „kompatibel“ und damit auch für das neue Jahrhundert wie geschaffen. Ich möchte sein Potenzial weiter ausloten und in Beziehung zu anderen Formen setzen.

Dass es sich bei Haiku und Tanka um japanische Genres handelt, ist für mich insofern von Bedeutung, als ich sie ohne mein Interesse für die japanische Kultur kaum kennengelernt hätte. Wenn ich Haiku oder Tanka schreibe, gehe ich aber von meinem kulturellen Hintergrund aus und hebe nicht darauf ab, japanische Formen zu benutzen. Ich wähle sie, weil sie für das, was ich ausdrücken will und wie ich es ausdrücken will, passen. Oder ich breche ihre Form auf, wenn ich mir davon mehr verspreche. Ein andermal ist vielleicht Kurzprosa oder zum Beispiel ein Gedicht in freien Rhythmen besser geeignet, dann nehme ich eben das; ich bin ja nicht auf Gedeih und Verderb ans Tanka gebunden.

Udo Wenzel: Wie liest man Tanka?

Ingrid Kunschke: Am liebsten lese ich sie mit etwas Zartbitterschokolade. Das ist eine unsinnige Antwort, aber keine so falsche. Dunkle Schokolade hat einen besonders zarten Schmelz; man kaut sie nicht herunter, sondern lässt sie auf der Zunge zergehen, damit man ihre Geschmeidigkeit genießen und alle Geschmacksnuancen herausschmecken kann. Man will ja ihre dezente Süße auskosten und dem Bitteren nachspüren, will herausfinden, wie glatt sie ist, hören, wie sie bricht. Liebhaber machen daraus einen Kult – ich bin da etwas unbedarfter.

All das lässt sich aufs Tanka übertragen. Tanka bedeutet „kurzes Lied“. In Japan finden denn auch gelegentlich zeremonielle Tanka-Lesungen statt, bei denen die Tanka zuerst feierlich vorgetragen und dann gesungen werden. Ein beeindruckendes Erlebnis. Aber wohl die wenigsten Tanka werden heute noch gesungen; man liest sie in Büchern oder wie hier im Internet, leise für sich, bevorzugt jedoch mehrfach und laut, um sie richtig wirken zu lassen.

Udo Wenzel: Das Tanka ist zwei Verszeilen länger als das Haiku, aber kein längeres Haiku. Worin unterscheiden sich die beiden Formen genau? Welche Möglichkeiten des dichterischen Ausdrucks findest du im Tanka, die es im Haiku nicht gibt?

Ingrid Kunschke: Ja, wenn wir mal, nur der Einfachheit halber, die Debatten um Moren und freie Form außer Acht lassen, besteht das Haiku aus drei Segmenten zu 5-7-5 Silben und das Tanka aus fünf Segmenten zu 5-7-5-7-7 Silben. Die Segmente werden im Westen in der Regel als Zeilen notiert. Das ist die zugrundeliegende Struktur, die manche Autoren einhalten und wieder andere locker handhaben. Das Tanka beginnt demnach – und das ist das Tückische – rein äußerlich wie ein Haiku und bietet dann zusätzlichen Raum. „Wunderbar,“ denkst du: „da kann ich glatt von einem Haiku ausgehen und einiges, was ich mir sonst verkneife, hinzufügen.“ Nun, so geht es natürlich nicht. Ein Tanka ist weder ein überbordendes Haiku, noch eins das auf der Streckbank war. Es ist auch nicht aus zwei Teilen zusammengekittet, sondern ein von Beginn an ganz und gar anders konzipiertes Gedicht aus einem Guss! Beachtest du das nicht, schlägt sich das in haikuhafte Tanka nieder, die jedes für sich sehr schön sein können, in der Summe das Potenzial des Genres aber nicht nutzen und deshalb auch vom Duktus her wenig abwechslungsreich wirken.

Klar gibt es hervorragende Tanka, deren erste Zeilen als Haiku bestehen könnten. Das heißt aber nicht, dass sie tatsächlich aus einem entstanden sind; vielmehr erkennt man das „Haiku“ in ihnen erst im Nachhinein. Solche Tanka zeigen oft eine Wende nach der dritten Zeile. Ein Naturbild leitet Gedanken ein, die Aussage entwickelt sich vom Besonderen zum Universellen, vom Objektivem zum Subjektiven und so weiter. Das ist eine sehr reizvolle und wirksame Struktur, aber eben nur eine von vielen. Vergiss am besten einfach, dass die ersten Segmente formal wie ein Haiku aussehen, vergiss, dass es Tanrenga gibt, vergiss das Anschließen in der Kettendichtung, wenn du abwechslungsreiche Tanka schreiben willst. Es geht soviel mehr! Viele Tanka entwickeln sich von Anfang an fließend, haben Einschübe, spannen einen Bogen, zeigen einen besonderen inneren Pulsschlag. Eine Zäsur kann ebenfalls vorkommen, sogar mehrere leichte Pausen sind denkbar, solange das Tanka ausbalanciert, harmonisch und zusammenhängend ist.

Um noch kurz bei der Form zu bleiben: Jahreszeitenwörter (ob man sie verwenden mag, oder nicht) gehören zur Haiku-Dichtung, nicht zur Tanka-Lyrik. Ein Tanka kann natürlich eine Referenz an die Jahreszeit enthalten, diese hat dann nur nicht die gleiche Funktion und Wirkung.

Tanka haben zudem einen lyrischen Charakter; es sind schließlich kurze Lieder, nicht wahr? Nicht nur steht ihnen mehr Raum für Aussage und sprachlichen Ausdruck zur Verfügung, sie nutzen auch eine Vielzahl zusätzlicher Stilmittel, die wir schon aus der westlichen Lyrik kennen. Sie können genauso lakonisch, „objektiv“ und leicht daherkommen wie Haiku; in der Regel sind sie aber stärker involviert, deutlicher von der Erfahrungswelt und Sichtweise des Autors geprägt. Halten wir also fest, dass die dichterische Haltung eine andere ist als beim Haiku und die poetische Stimme einen viel weiteren Bereich hat. Ich habe zudem den Eindruck, dass das Tanka mich mehr mit mir selbst in Verbindung bringt, während das Haiku mich deutlicher mit der Welt verbindet. Beide Genres schaffen Klarheit, das Tanka eher nach innen, das Haiku eher nach außen. Nun, das ist sehr unzulänglich ausgedrückt und mag sich nicht für jeden so darstellen.

Ja, und dann sind Tanka weniger als Haiku auf die Gegenwart bezogen. Sie blicken oft zurück oder voraus, verweben gern mehrere Zeit- oder Bedeutungsebenen miteinander. Dass sie etwas länger sind und mehr Möglichkeiten bieten, heißt allerdings nicht, dass es einfacher ist, Tanka zu schreiben.

Udo Wenzel: Je mehr man sich mit dem Haiku beschäftigt, desto schwieriger wird es, dieses eindeutig zu definieren. Die Geschichte des Haiku zeigt, dass unter der Gattung eine Vielfalt von Formen und Ausdrucksmöglichkeiten versammelt wurden und eng gefasste Definitionen höchstens persönlichen Charakter haben können. Im 20. Jahrhundert hat eine Entwicklung einerseits hin zu einem freiformatigen Gedicht, andererseits eine Neubetonung der Tradition stattgefunden. Gibt es eine vergleichbare Entwicklung und Vielfalt im Tanka?

Ingrid Kunschke: Ja, die gibt es, und wir müssen uns tatsächlich mehr als nur die Form anschauen. Andere Entwicklungen, nämlich die thematische Erweiterung des Tanka und die Hinwendung zu zeitgemäßer Sprache, sind viel entscheidender gewesen und haben die Auflockerung der Form in Japan vorangetrieben, lange bevor sie im englischsprachigen Raum einsetzte. Was keineswegs heißen soll, dass „freiformatige“ Tanka in Japan die Regel sind!

Bis zu ihrer Reform wurden Tanka in der klassischen japanischen Schriftsprache geschrieben – und viele auch danach und sogar jetzt noch. Das ist, als schrieben wir mit großem Ernst wie Walther von der Vogelweide. Man mag den Kopf darüber schütteln, die damit einhergehende Verengung beklagen, aber diese Schriftsprache hat schon auch Vorteile: unter anderem ist sie wunderbar geschmeidig und nuancenreich. Nur zeitgemäß ist sie eben nicht. Zu einer lebensnahen Ausdrucksweise zu finden, war sicherlich keine leichte Aufgabe. In der Hinsicht hatte das Tanka sogar einen noch weiteren Weg zurückzulegen als das Haiku, denn Lehnwörter und Wörter, die sich auf alltägliche oder unelegante Dinge bezogen, waren im Tanka bis dahin Tabu geblieben.

Mit den Themen verhielt es sich ähnlich. Was im Tanka zu bearbeiten sich nicht schickte, hatte in Haiku-Kreisen ein Forum gefunden oder als kyōka (Tanka-Parodie, verrücktes Gedicht) das Licht der Welt erblickt. Das Tanka des ausgehenden 19. Jahrhunderts war blutleer und erstarrt, ausgelutscht vom ständigen Umsichselbstdrehen innerhalb enger Konventionen. Nun hatte sich Japan aber gerade der Welt geöffnet und so kamen erste Übersetzungen europäischer Lyrik auf den Markt, allen voran Wordsworth, Shelley und Byron, dann Werke der Naturalisten, Symbolisten und so weiter. Das gab einen enormen Ruck! Prompt erschienen allerorts shintaishi, freie umgangssprachliche Gedichte neuen Stils, die ihnen nachzueifern suchten. Wie das Haiku, sah das Tanka damals richtig alt aus. Allen Unkenrufen zum Trotz waren beide aber fähig, sich zu wandeln. Die aus dem Westen übergeschwappten Stilrichtungen fanden ihren Weg ins Tanka, dessen Themenbereich sich dramatisch erweiterte. Und ich muss sagen, wenn ich – um nur zwei Beispiele herauszugreifen – bei Ishikawa Takuboku (1886-1912) vom traurigen Herzen des Terroristen lese und bei Ei Akitsu (* 1950) von Eierstöcken, dann können wir uns von der schieren Bandbreite ihrer Themenwahl und deren glücklichen Umsetzung eine ordentliche Scheibe abschneiden! Insbesondere die naturalistische und die spätere proletarische Bewegung forderten Thematik, Sprache und somit auch den Rhythmus des Tanka der Realität anzugleichen.

Es gibt Autoren, sowohl japanische als auch westliche, die sich an 5-7-5-7-7 Moren oder eben Silben halten und wiederum andere, die das nicht tun. Die meisten westlichen Tanka erscheinen in englischer Sprache und sind, sofern sie diesen Rhythmus eher locker umsetzen, kürzer – teils wesentlich kürzer, mitunter sogar minimalistischer Natur, wie wir es schon von Haiku aus dem angloamerikanischen Sprachraum gewohnt sind. Und wie diese lassen sie den Einfluss der Imagisten und der Beat-Generation erkennen.

Die Entwicklung in Japan ist interessanterweise gegenläufig gewesen: free form bedeutete dort eine Befreiung von der einengenden Kürze der Form, die – so sahen es die Erneuerer – der Komplexität der modernen Existenz nicht gerecht würde. Die Errungenschaften der längeren shintaishi inspirierten sie zunächst zu längeren Tanka, bevor sie auch mit kürzeren experimentierten! Masaoka Shiki (1867-1902) war der Ansicht, man könne Tanka mit 33 Moren gelten lassen, ohne ihre Überlänge wie früher als Fehler zu werten. Yosano Akiko (1878-1942), die Galionsfigur der romantischen Bewegung, erweiterte ihre Tanka aus stilistischen Gründen gelegentlich um wenige zusätzliche Moren, insbesondere im ersten und letzten Segment, inhaltlich und vom Gehalt her durch ihre kühne Verwendung von Stilfiguren. Zudem griff sie auf furigana, kleine Lautschriftzeichen, zurück, die sie einzelnen Sinnschriftzeichen zur Seite stellte, um eine zweite, interpretierende Lesung zu ermöglichen. Und Takuboku meinte, das traditionelle Metrum sei zu eng, man könne auch 41 oder gar 51 Moren erlauben! Tatsächlich orientierte er sich dann doch überwiegend an 31 Moren. Aber er tat etwas anderes: Die fünf Segmente teilte er mitunter in kleinere Einheiten auf, oder brachte sie in eine andere Reihenfolge. Seine Tanka notierte er in drei Zeilen statt in einer und versah sie mit Einschüben und westlichen Satzzeichen. Drei Zeilen finden wir auch bei Toki Zenmaro (1885-1980), der sogar Tanka in romaji (römischer Schrift) schrieb.

Wir sehen hier also schon an wenigen Beispielen moderner, aber nicht einmal mehr zeitgenössischer Dichter, eine beachtliche Auflockerung des Tanka, die sich nicht nur in variabler Länge und Strukturierung bemerkbar macht, sondern eine inhaltliche und visuelle Erweiterung umfasst. Mit dem späteren poru-Tanka, dem proletarischen Tanka, war das Tanka in Gegenwartssprache und freien Rhythmen schließlich perfekt – nur mangelte es ihm an Gehalt, weil die Ideologie zu sehr im Vordergrund stand und die Gefühlsebene daran kränkelte. Das rief wiederum Dichter auf den Plan, die sich der gebundenen Form bedienten, um mit purer Poesie nach Wahrheit zu suchen, nach dem Universellen, das jenseits der Sprache liegt. Es gibt da also ganz wie beim Haiku verschiedene Strömungen.

Neben den geläufigen Argumenten gibt es in Ost und West ganz individuelle und durchaus stichhaltige Beweggründe, entweder an der überlieferten Form festzuhalten, nach jahrelangen Experimenten zu ihr zurückzukehren (auch das gibt es!), oder sie allenfalls noch in Einzelfällen gezielt einzusetzen. Wer die gebundene Form als rückwärtsgewandt abtut, oder andersherum freien Tanka pauschal den „Tanka-Status“ abspricht, macht es sich allzu einfach. Du hast an anderer Stelle schon auseinandergesetzt, dass etwa ein 3-5-3-Haiku ja auch gebunden ist. Ich selbst schreibe überwiegend Tanka, die sich nicht an 5-7-5-7-7 halten, aber ich verwechsle frei nicht mit willkürlich oder „schlampert“. Zumindest eine gewisse Balance gibt es immer. Und manchmal schramme ich nur knapp an 31 Silben vorbei, damit sie hinter dem Tanka aufscheinen. Ob wir sie für unser Schreiben verwerfen oder nicht, diese Silbenzahl steht nun mal im Raum. Freiformatige Tanka können daraus sogar Honig saugen, denn sowohl im Einhalten als im Abwandeln einer Form, kann sich eine Aussage verbergen. Mir ist nicht nur das Nebeneinander von fester und freier Form wichtig, sondern auch der Dialog zwischen Tanka und mainstream. Ich freue mich über jedes gelungene Gedicht, von dem ich spüre, dass es mich etwas angeht und die (Tanka-) Lyrik in die eine oder andere Richtung weiterbringt.

Betrachte ich das niederländische und deutsche Tanka, sehe ich überwiegend den 5-7-5-7-7 Rhythmus, der in beiden Sprachen gut funktioniert und, etwas freier, das Bild kurz-lang-kurz-lang-lang. Weniger in Veröffentlichungen, dafür umso mehr im Briefwechsel mit niederländischen Tanka-Freunden sind mir freiere Strukturen begegnet. Auch gemeinschaftliche Sequenzen und spontane Tanka-Dialoge sind da längst keine Seltenheit mehr. In Deutschland steckt das Tanka noch in den Kinderschuhen; Gemeinschaftsarbeiten sind mir nicht bekannt. Was hierzulande an Tanka erscheint, orientiert sich noch sehr an den besser verfügbaren (nur nicht immer gleichermaßen gelungenen) Übersetzungen klassischer japanischer Tanka. Und was sich in der Gestalt des Tanka alltäglichen oder gewagteren Themen annimmt, wirkt nicht immer, als wüsste der Autor, was er da macht. Ich sehe aber, dass sich in letzter Zeit etwas bewegt und bin ganz gespannt, wie es einmal aussehen wird, das deutsche Tanka, was es einerseits zur Diversität der Tanka-Lyrik und andererseits zur Bereicherung der lyrischen Landschaft beitragen wird. Einen Vorgeschmack darauf bekommen wir ja in anderen Beiträgen dieser Haiku-heute Ausgabe.

Udo Wenzel: Gibt es „Techniken“ in der Tanka-Dichtung? Man spricht zum Beispiel von einer pivot line. Welche Funktion hat diese und ist sie unbedingt notwendig?

Ingrid Kunschke: Pivot line ist ein angelsächsischer Begriff, der die Zeile bezeichnet, in der, etwa durch die Verwendung einer rhetorischen Figur, das Tanka eine Wende nimmt, eine neue Bedeutungsschicht offenbart. Es muss nicht die mittlere Zeile sein, die diese Funktion innehat, auch wenn das in der Regel so dargestellt wird. Ich zeige das mal an diesem Tanka von mir:

Zur Nacht
steigen sie im Meer empor
Tiefseewesen
träge hinübergleitend
finde ich in einen Traum

Das Stilmittel, mit dem ich hier arbeite, ist das Apokoinu. Zeile d wird sowohl auf Zeile c als e bezogen, sie ist somit gleichzeitig Bestandteil von zwei verschiedenen Aussageelementen. Dadurch entsteht ein geschmeidiger Duktus und – obwohl das hier inhaltlich und grammatisch eigentlich nicht geht – ein fließender Übergang. Logik und Grammatik werden in d sozusagen aus den Angeln gehoben, um ein umfassenderes intuitives Verständnis zu ermöglichen. Die Zeilen a bis d ergeben Sinn, ebenfalls a, d und e zusammengenommen. In der Kombination entsteht der Effekt eines Simile („träge wie Tiefseewesen finde ich…“) sowie die Vorstellung, der Traum handle vom Meer, das ja bekanntlich fürs Unbewusste steht, aus dem im Schlaf so manches an die Oberfläche gelangt. Damit das Stilmittel greifen kann, habe ich auf Satzzeichen verzichtet. Die Einschübe verstärken das Gefühl des Gleitens.

Wie Ellipse und Zeugma, die ebenfalls gern in Tanka verwendet werden, ist das Apokoinu eine Technik der Worteinsparung, mit der man den Gehalt erweitern kann. Die pivot line kann auch auf andere Weise zustande kommen und ist nur eine von vielen Gestaltungsmöglichkeiten; notwendig ist sie also nicht. Ich halte es für sinnvoller, das eingesetzte Stilmittel zu benennen, statt von pivot line zu sprechen, denn manchmal „scharniert“ oder „changiert“ ein Tanka gleich an mehreren Stellen, oder in nur einem einzigen Wort (zum Beispiel im Falle eines Homonyms).

Zu den allgemein bekannten Techniken, die im Tanka Verwendung finden, zählen Personifikation, Synästhesie, Hyperbel, Metapher, Simile, Parallelkonstruktionen, These und Antithese, Wiederholung, Zitate, Anspielungen und Spannungs- und Sprechbögen. Einen weiten Spannungsbogen habe ich zum Beispiel in

Warum heute
kommt es mir in den Sinn?
Unerreichbar,
weit mehr noch als damals,
das Kleid im Jackie-Look.

Das Kleid ist in weite Ferne gerückt; entsprechend erfährt der Leser erst zum Schluss, wovon die Rede ist, aber man darf ihn unterwegs natürlich nicht verlieren. Dann gibt es noch Techniken, die im klassischen Tanka gern eingesetzt wurden. In einem zeitgenössischen Gedicht würden manche eher antiquiert anmuten, deshalb gehe ich hier nicht auf sie ein.

Wie man Klang und Melodie der Sprache beeinflusst, dürfte hinreichend bekannt sein. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass japanische Tanka Endreim meiden. Kurz nachdem sie mit westlicher Lyrik in Berührung gekommen waren, haben einige japanische Dichter mal versucht, Endreim einzuführen und diese Idee bald wieder verworfen. Ein Grund dafür liegt in der Sprache – es macht einfach keinen Sinn zu reimen, es wäre zu einfach und monoton –, ein anderer in der Übernahme chinesischer Vorstellungen zu „Gedichtkrankheiten“ (Schwächen, die es zu meiden galt). Wenn in einem westlichen Tanka mal an einer Stelle ein nicht erzwungener, beiläufiger Endreim auftritt, kann ich sehr gut damit leben. Und genauso wie Kakophonie gekonnt eingesetzt ein ausgezeichnetes Stilmittel ist, kann ich mir, wo es angebracht ist, auch einen etwas nachdrücklicheren Endreim im Tanka vorstellen.

Wichtig ist vor allen Dingen, dass Inhalt, Sprache und Gestalt harmonieren, dass das Gedicht ausbalanciert ist und einen frischen, authentischen Eindruck hinterlässt. Das kann man oft schon mit einfachen Mitteln erreichen.

Udo Wenzel: Worauf sollte jemand, der Tanka schreiben möchte, besonders achten?

Ingrid Kunschke: Ich kann nur raten, zu lesen, sich möglichst breit in die internationale Tanka-Lyrik einzulesen und darüber andere Genres, aber auch die Musik und Malerei und vor allen Dingen das Leben nicht zu vernachlässigen. Tanka haben, so unterschiedlich sie sind, ein bestimmtes Wesen, das man mit der Zeit erkennt. Das macht sicherer beim Schreiben. Wer zudem Prosa und Gedichte anderer Art schreibt, bemerkt vielleicht schneller, was die Stärken des Tanka sind, was man sonst noch mit ihm anstellen kann und wozu es sich weniger eignet, wohin man es also besser nicht zwingt. Die Beschäftigung mit anderen Formen schützt auch davor, das Tanka hochzustilisieren. Ich wünsche dem deutschen Tanka, dass kein Kult um ihm getrieben wird, wie beim Haiku teils geschehen. Es ist eine Form wie jede andere, die der hiesigen Lyrik neue Impulse geben kann und keinen Grund hat, vor Impulsen von außen zurückzuscheuen.

Udo Wenzel: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Ersteinstellung: 10.09.2006