Nichts mehr zu machen

Hans Lesener

 

Dies ist vielleicht der letzte schöne Herbsttag. Der Himmel ist klar und tiefblau, doch die Sonne hat nicht mehr die Kraft, die Morgenkühle, durch einen leichten Ostwind verstärkt, zu überwinden.

Auch unsere Pferde, denen ich das Gatter öffne, scheinen zu empfinden, dass die Weidezeit bald vorüber ist, stürmen im Galopp drauflos. Der neunjährige Wallach gefällt sich in Imponiergehabe, jagt spielerisch die Fohlen. Die Stuten drängen sich schützend dazwischen.

Mein alter Island-Wallach – ein kräftiges Pferd von unerschütterlicher Gelassenheit mit dem isländischen Namen ‘Hrakför’ – hält sich dem Getobe fern. Ruhig sucht er sich einen Platz zum Grasen, ganz in meiner Nähe am Zaun. Wir sind seit vielen Jahren und durch zahllose Ausritte miteinander vertraut.

Plötzlich sehe ich ihn stolpern: Mit dem rechten Vorderhuf ist er in eine Unebenheit getreten, vielleicht in ein Kaninchenloch. Ein trockenes Knacken: Das Bein schlenkert haltlos. Hrakför hebt den Kopf und schaut mich direkt an, mit einem Ausdruck von Verwunderung und Erstaunen. Dann kehrt sein Gleichmut zurück und er versucht, auf drei Beinen zu grasen.

Beinbruch. Ich weiß, was das bedeutet, rufe den Tierarzt an. Schon nach dem ersten Blick auf das Pferd sagt er: „Nichts mehr zu machen“. Wir gehen zusammen auf die Weide. Während die Spritze aufgezogen wird, gebe ich Hrakför noch ein Stück Möhre, klopfe ihm den Hals. Dann wende ich mich ab. Nach einigen Sekunden der dumpfe Fall. Er liegt jetzt auf der Seite, die Lippen merkwürdig hochgezogen, zwischen den langen gelben Zähnen noch ein Büschel Gras. Erst jetzt durchläuft mich eine Welle von Trauer und Schmerz.

Routiniert nimmt der Arzt die Hufeisen ab, verspricht, den Abdecker anzurufen. Später hilft mir ein Nachbar, mit dem Trecker den Körper an den Wegrand zu schleifen. Am Nachmittag kommt der große metallene Kastenwagen der Tierkörperbeseitigungsanstalt. Während der Greifarm des Krans das tote Pferd packt und hochhebt, läuft ein dünner Faden Blut aus dem gebleckten Maul.

Der Wind hat sich gedreht, kommt jetzt aus Westen. Es beginnt zu regnen.

Quittung über
‚Ein Stück Pferd‘.
Die Herde grast wie immer.

 

Ersteinstellung: 10.07.2006