Haiku-Besprechungen April 2006

Auf dieser Seite stehen einige Besprechungen zu den Haiku der Monatsauswahl März 2006 von Haiku heute. Aufgerufen zu solchen Besprechungen waren alle freien Mitarbeiter von Haiku heute.

 

kaltrosa der Abend
vergrabe mich
im Pferdehals

Gerd Börner

Der Klang dieses Haiku ist nach meinem Empfinden sehr harmonisch. Es hat mich sofort fasziniert. Vor meinem geistigen Auge entstanden verschiedene Bilder. Zum einen sehe ich einen Reiter am Abend, allein unterwegs. Man hält sich an der Mähne, am Pferdehals, fest. Es ist keine Rede von Zaumzeug oder Zügel. Vielleicht will man durch diesen Ausritt Abstand von etwas gewinnen. Oder man möchte nur eine Zeit mit sich, dem Pferd und der Welt allein sein. Abschalten, zur Ruhe kommen. Die Finger / Hände graben sich ein, in die Wärme unter der Mähne. Es mag von Leser zu Leser unterschiedlich sein, mir offeriert das Vergraben „im“ Pferdehals nichts Widersprüchliches. Ich werte dies als ein Zeichen von Hingabe und Vertrautheit. Sich „in der Mähne des Pferdes“ zu vergraben wäre hier meines Erachtens viel zu deutlich, zu korrekt.

Die zweite Szene bringt mir einen Menschen nahe, der alleingelassen oder einsam die Nähe des Tieres sucht. Dieses Bild hat sich unbewusst manifestiert, mehr als das des Reiters. Ich sehe jemand, der sich verkriechen, sich zurückziehen möchte. Sei es, um einem Konflikt aus dem Weg zu gehen oder aus Gründen erhöhter Sensibilität.

Dominierend ist für mich die Bezeichnung „kaltrosa“. Man schreibt hier nicht von Abendrot oder vom Sonnenuntergang. Man bezeichnet die Zeit der Begegnung als einen ‚kaltrosa Abend’. Rot assoziiert uns etwas Auffälliges, ist eine Warnfarbe und steht als Symbol für Blut, Feuer, Liebe. Rosa hingegen vermittelt nichts Bedrohliches, bezeichnet Zurückhaltung, steht für Sanftheit. Die sanfte Wärme des Rosa wird hier allerdings durch ‚kalt’ stark minimiert.

Schlussendlich sehe ich den Autor, auf der Suche nach Wärme und Nähe, welche er, ob nun allein gelassen oder durch sein Insichzurückziehen selbst bewirkt, dadurch erfährt, dass er seine Hände oder sogar sein Gesicht in der Mähne des Pferdes vergräbt. Nicht nur die Mähne wird gestreichelt, das Fell darunter wird erfühlt, zu spüren ist die Wärme des Pferdehalses. Man wärmt Hände und Seele. Ein Eingraben in etwas Ursprüngliches, ein Sichfallenlassen, um die eventuelle Melancholie dieses kaltrosa Abends besser zu ertragen.

Die drei Zeilen haben mich sehr berührt und vermitteln mir das Gefühl einer gewissen Ohnmacht. Ein Bild, in welchem jemand vielleicht hilflos, ratlos einer Winternacht entgegen geht.

Ramona Linke, Erstveröffentlichung 10.04.2006

 


 

Märzensonne –
ihre Augen
grüner

Rudi Pfaller

Vermummt, fremd.
Ihre Augen
erzählen Bände.

Marianne Kunz

Wiedersehen.
Noch immer das Leuchten
ihrer Augen.

Michael Denhoff

„Ich seh` dir in die Augen, Kleines!“ Nicht nur Fans des Films „Casablanca“  kennen diesen Satz, der zum geflügelten Wort (oft aber in falscher Fassung: ‘Schau mir in die Augen, Kleines!’) geworden ist. Die Augen eines Menschen sind ein Faszinosum (auch augen(!)scheinlich in der Werterrunde, Märzauswahl 2006). Der Augenkontakt schafft Nähe, seine Vermeidung Distanz. Wer hätte nicht schon von den Augen als Spiegel der Seele gehört. Weite, Nähe – wir schweifen von den allgemeinen Eindrücken zum Besonderen, wir fokussieren. Das Fokussieren auf ein wesentliches Element unserer Wahrnehmung ist eine geläufige Haiku-Technik. Bei allen drei Haiku ist es aber nach meinem Dafürhalten gelungen, dass sich nicht ein Nachdenken über dieses poetische Mittel zwischen Leser und Gedicht schiebt. Die poetische Kraft der Haiku nimmt mich mit in diese Augen-blicke, meine Wahrnehmung fokussiert sich, ich tauche ins Grün dieser Augen, lasse mir von Augen erzählen, empfinde es als wunderbar, dass da „noch immer das Leuchten“ ist.

Angelika Wienert, Erstveröffentlichung 10.05.2006

 


 

Marita –
Die Ewigkeit beginnt
an einem Dienstag

Franz Christoph Schiermeyer

Ein Name, die Ewigkeit, ein Wochentag: Noch fällt es schwer, vom aktuellen Ereignis zu abstrahieren und sich zu fragen, ob der Text auch für sich stehen kann. Muss er das denn? Viele klassische japanische Haiku tragen Überschriften oder sind eingebettet in Texte, die sie erst verständlich machen. Im Deutschen hat sich die Auffassung durchgesetzt, Haiku sollten für sich stehen und keine Erläuterung benötigen. Als Faustregel mag das auch angehen, aber mehr mag ich darin nicht sehen. Vielleicht tut dem Haiku später einmal ein vorgestellter Satz gut. Aber ein Name, und der Anfang der Ewigkeit an einem bestimmten Wochentag: Da kann kaum etwas anderes gemeint sein, als dass diese Frau gestorben ist.

Der Text ist allerdings wenig individuell. Jeder könnte ihn so schreiben, ich spüre den Verfasser nicht darin, das Haiku ist kaum individualisiert. Mit ganz leichten Veränderungen: ein anderer Vorname, ein anderer Wochentag, lässt sich der Text an andere Todestage anpassen. Bei den allerbesten Haiku gelingt so etwas kaum, sie lassen sich nur schwer von ihren Verfassern trennen, sind von anderen nicht oder nicht ohne Schaden übernehmbar.

Sollten Texte derart überindividuell oder eher persönlich gehalten sein? Ich selbst merke immer wieder, dass ich als Leser meistens Texte besonders schätze, wenn ich von einer ganz persönlichen Darstellung auf etwas Überpersönliches, allgemein Gültiges kommen kann. Hier ist das kaum so.

„Marita Schrader ging am Dienstag, dem 7. März 2006 in die Ewigkeit ein.” Das ist kein Gedicht, sondern eine Information, verquickt mit einem Glaubenssatz. Wie wird daraus ein Haiku? Durch die Verkürzung auf den Vornamen und durch den Gedankenstrich gewinnt der Text an Gefühl, kommt über die bloße Information hinaus. Wesentlich für den Haiku-Charakter scheint mir der auffällig herausgestellte Dienstag, eine konkret erscheinende Zeitangabe, die aber verbunden wird mit dem Beginn der Zeitlosigkeit. Es ist genau diese Spannung zwischen einem Augenblick und der Ewigkeit, die mir gefällt. Es ist die Verknüpfung eines konkreten Tages mit der, nun, Transzendenz, die alles Konkrete übersteigt. Wie immer man weltanschaulich dazu auch stehen mag, literarisch finde ich das Haiku damit gelungen.

Volker Friebel, Erstveröffentlichung 10.05.2006

 


 

Am Kanal entlang –
eine Frau fragt mich,
wo sie wohne

Angelika Wienert

Ein mit wenigen Zügen skizziertes klares Bild eines existentiellen Dramas. Eine Szene, frei von die Wahrnehmung fragmentisierenden zivilisatorischen Elementen, wenigstens werden sie nicht ins Blickfeld gerückt. Nur ein Kanal, dessen Ende nicht abzusehen ist, und über den keine Brücke auftaucht: „Am Kanal entlang –„. Ein Gedankenstrich, hinter dem die Gesetze des Denkens teilweise außer Kraft gesetzt sind. Die Gegend ist geteilt, in eine statisch fließende Zone und in einen Bereich, der unruhig ist von Bewegungen des Irrens und dramatisiert durch die Begegnung der Frauen – ein Gebiet, wo das Gewohnte keine Gültigkeit mehr hat.

Der zweite Teil des Haiku wirkt wie ein Bericht in indirekter Rede. In Wirklichkeit realisiert die Autorin, die Worte der Frau sammelnd und in sich ordnend, erst im nachhinein, jetzt, womit sie konfrontiert. Wie der Kanal kein Ende erkennen läßt, gibt es hier an Ort und Stelle keine Antwort.

Und doch, der Kanal ohne Brücke ist Zeichen für ein Hinüber. In einem anderen Licht erscheint er als Unterweltsfluß des Vergessens, als Lethe; wer aus ihr trinkt, heißt es in der Unterweltsvorstellung der Antike, verliert die Erinnerung an das irdische Leben.

Doch dem scheint noch kein Ende gesetzt. Der fehlende Punkt läßt einiges offen. Für einen Augenblick war die dramatische Frage des Wo des Wohnens in volles Licht gerückt …

Mario Fitterer, Erstveröffentlichung 10.05.2006

 

Ersteinstellung: 10.05.2006