Aufenthalte

Ein Haibun von Georg Jappe
Mario Fitterer

 

Georg Jappes Buch in der Hand wiegt schwer; Format 23,5 x 17,5 cm, der Einband nach Art eines Gästebuchs. Ich denke an sabi. Ein Buch, das zum Verweilen einlädt, zum Schauen, zu intensiver Lektüre, eine bibliophile Kostbarkeit, die dem Matto Verlag, Köln, gelungen ist.

„Aufenthalte“ sind voller Überraschungen. Sie beginnen schon auf der Innenseite des Vorderdeckels mit dem handschriftlichen Hinweis auf die Mohana, einem auf Booten in einem Sumpfgebiet von Pakistan lebenden „Völkchen“, bei dem die Schulprüfung darin besteht, vor dem Stammesältesten „die Stimmen der Wasservögel genau nachahmen zu können“.

Das Haibun von Georg Jappe entzieht sich gewohnten Erwartungen. So hatte ich es mir nicht vorgestellt, zu sehr an japanische und deutschsprachige Haibun gewöhnt, doch mich auch an „Das neue Leben. 78 Dreizeiler“, 1994, von Michael Donhauser erinnernd. Diese Dreizeiler resultieren aus Fahrten mit dem Rad in die nähere Landschaft, Bashô im Rucksack, wie via Internet aus den einem großen Teil der Texte beigegebenen Schilderungen zu erfahren ist. Buch und Internetseiten lassen sich zusammen als biblio-elektronisches Haibun lesen.

„Ein Haibun“, so Georg Jappe in einleitenden Worten, „ist das Reisejournal eines Haikudichters. Klassische Fußwanderungen durch Japan führten oft durch unwirtliche Gegenden, von Tempel zu Tempel, von Freund zu Freund.

Ein heutiges Schritt-vor-Schritt führt nicht mehr flächendeckend von Platz zu Platz, es ist eher ein Hüpfen von einem Trittstein zum andern, wie es in der Sprache des Vogelzugs heißt; von Inspirationsort zu Inspirationsort, von Freund zu Freund.“

Wanderreisen waren für Bashô, las ich bei Shuichi Kato, auch ein Mittel, der vulgären Welt zu entgehen. Er habe den Japanern erst das Empfinden für Natur vermittelt. Ein Teil seiner Reisen soll auch gefährlich gewesen sein. Von Auseinandersetzungen mit Verwaltungbehörden, vom Ringen um Erhalt gefährdeten Naturraums ist nichts zu lesen. Eine wohl durch und durch ästhetische Welt, sieht man ab von Unbilden mit Läusen und Dirnen unter demselben Dach, für den Dichter ungewohnt und unfreiwillige Ausnahme.

Georg Jappe stellt seinem Haibun eine Haikudefinition nach Sôseki voran: „In erster Linie ist Haiku ein rhetorisches Konzentrat, in zweiter Linie ist es ein Universum, das von einem Brennpunkt ausstrahlt, wie die Niete eines Fächers, die erlaubt, alle seine Stäbchen zusammenzuhalten.”

In früheren Haikubüchern betonte Georg Jappe den optischen Charakter des Haiku dadurch, daß er der endgültigen Fassung in Satz den ersten handschriftlichen Entwurf beigab. In „Aufenthalte“ umgibt das Haiku in Satz, immer assoziativ mit ihm korrespondierend, „das Umfeld: die prosaische Tätigkeit des ‚Ornithopoeten“, ein über Jahrzehnte geführtes Vogeltagebuch, „wissenschaftlich exakt, in alten Poesiealben und Gästebüchern, auf leergebliebenen Seiten oder solchen, wo Raum war zwischen fremden Schriftzügen“. Prinzipiell erscheinen die allgemeinen Beobachtungen in Schwarz, die besonderen goldgelb (später rot). Der Autor läßt den Leser über die Handschrift gleichsam fortlaufend mit „Erraten und Enträtseln” am Schaffensprozeß teilnehmen.

Beim Besuch bekannter Orte wollte Bashô, so Alain Kervern, sich den genius loci in Erinnerung rufen. Er habe dabei die Energie der Orte mobilisiert. Das klingt im weitesten Sinn nach Orten der Kraft. Im Römischen Reich kennzeichnete der Augur mit dem Krummstab einen viereckigen Grundriß für die Auspizien, den Brauch, aus Flug und Stimme der Vögel die Zustimmung der Götter zu geplanten Handlungen zu deuten. Die Vögel waren Träger göttlicher Zeichen.

Vögel schließen Jappe die Landschaft auf. Im Vogel „kann sich die ganze Landschaft kristallisieren, er ist ihr Ausdruck oder ihr Gedächtnis oder Bote fremder Räume“, so Jappe in „Ornithopoesie“, 1994. Der Begriff „Ornithopoesie“, von ihm 1981 gefunden, wurde 1984 als Titel einer Ausstellung erstmals öffentlich. Jappe sieht „Ornithopoesie“ als „eine Variante von Kunst = Leben. Ornithopoesie ist die Umsetzung von Ornithologie in formuliertes Erlebnis.“

So erstaunt es nicht, in „Aufenthalte“ immer wieder Vogellisten aus den unterschiedlichsten Orten der Welt zu begegnen. Sie charakterisieren nach Jappe eine Landschaft genauer als die ihnen vorausgehenden Schilderungen. Sie zeigen den Grad des Eingriffs und der Schonung durch den Menschen.

Die wissenschaftliche Arbeit des Ornithologen, „die prosaische Tätigkeit des ‘Ornithopoeten’”, das Handeln als tutor avium, die Begegnungen mit zahlreichen Vögeln in je ihrer Art („über 100 neue Vogelarten erkennen gelernt”) in einer besonderen Stille, im wechselnden Licht der Landschaft verfeinern das Wahrnehmungsvermögen und weiten die Empfänglichkeit für die kosmischen Klangsphären.

Wenn das Haibun auch „eher ein Hüpfen von einem Trittstein zum andern” markiert, ist es dennoch ein kontinuierliches Gehen der Handschrift, Kontinuum inmitten der Veränderungen welcher Art auch immer, der Erfahrungen eines Haijin, sehr berührend an mancher Stelle, dramatisch am Schluß, so dramatisch, daß kein Raum mehr ist für einen Atemzug, ein Haiku, und der Mensch, zunehmenden Immissionen ausgesetzt, vogelgleich, im negativen Sinne zum Migranten wird.

In „Aufenthalte”, Zeugnis intensiver Naturnähe, verharrt der Autor, das Ohr dicht an der Sprache der Tiere zwischen Himmel und Erde, nicht in passivem Lauschen, vielmehr ist er in Auseinandersetzungen mit kapitalistischen Interessen und Behörden aktiver Polítes, der sich einmischt. Das Haibun ist über ein ornithologisches und ornithopoetisches Reisejournal hinaus zugleich auch Spiegel der Gesellschaft im Umgang mit Natur und damit auch politisch.

Die Haiku gehören zu den originellsten und sprachlich interessantesten der deutschsprachigen Haikuszene, immer wieder überraschend. Wer käme auf die Idee, Demosthenes im „Lärmgischt” zu hören! Oder fände ein Bild wie dieses: „durch die vernarbte / Apfellaube des Klosters / ein Giraffenhals”. Oder Wortneuschöpfungen wie „motoradiert”.

Manchmal scheint aus dem Fluß eines dem Ohr entzogenen Rhythmus heraus plötzlich ein Augenblick verbal hör- und sichtbar zu werden und wieder zurückzusinken („es knistert es spricht / von unten es steht / langsam fest es schneit“). Andere Haiku scheinen zum von Jappe formulierten Bereich „Alltagszu- und ab-fall” zu gehören („Raststätte hallo / woher wohin erzählen / und weiter hallo“). Auf engstem Raum die Konfrontation mit dem Unvermuteten: „Einbrecher – / ich / auf Glastür (7 Silben)”.

Bedrückend, wie in „Vollmond. Schnee. Steinkauz / Land von Überlandstraßen / umringt umrungen” sich nach der ersten Zeile, die alle Landschaft zu versprechen scheint, bittere Realität adäquat in Worte umsetzt.

Ein besonderes Beispiel, wie Vogelstimme im Haiku durchklingt, und Bild und Klang zusammenstimmen, ist:

Arnikawiese
Vieh noch fern . Von Zilp & Zalp
gezackte Lichtung

Dazu findet sich eine Notiz von Georg Jappe: „das i-a des Zilpzalps konstituierend, mit den leichten konsonanten Störlauten seines Schlags. Arnika wächst nur auf ungedüngten Almwiesen und wird von Rindern besonders gern gefressen. Der eintönige Schlag des Zilpzalps ist der letzte im alpinen Hochsommer noch zu hörende Gesang.“

„Aufenthalte“ ist vor allem aufgrund seiner geschlossenen Gesamtkonzeption, des aus intensivem Naturerleben sich ergebenden der Natur verpflichteten Handelns des Haijin als Polítes, der originellen sprachlichen Haiku-Gestaltung für die Entwicklung des deutschsprachigen Haibun ein wesentlicher Meilenstein.

 

Georg Jappe, Aufenthalte – ein Haibun, Matto Verlag, Köln, 2005, 192 Seiten, Hardcover, Vierfarbdruck, Fadenheftung, Format 23,5 x 17,5 cm, 500 numerierte und signierte Exemplare, 40,00 Euro – ISBN 3-936392-03-X.

 

Ersteinstellung: 10.04.2006