Im ausgewilderten Licht

Buchbesprechung von Rüdiger Jung

Volker Friebel (2015): Im ausgewilderten Licht. Orte und Wanderungen. Mit 34 Farbfotos des Autors. Tübingen: Edition Blaue Felder, ISBN 978-3-936487-98-5. 80 Seiten. 14,90 Euro.

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Nach den Formen der japanischen Kurz- und Partner-Dichtung hat (seit Jahren schon) Haibun, die Haiku-(haltige, gemäße, kompatible) Prosa Einzug im deutschen Sprachraum gehalten. Mit „Im ausgewilderten Licht“ von Volker Friebel liegt meines Erachtens ein Meisterwerk vor, in dem Prosa, lyrische Konzentrate in Haiku-Form und – nicht zuletzt – die Farbfotos eine durchaus strenge und überzeugende Synthese eingehen.

Wohltuend, daß schon im Vorwort Erlebtes im Mittelpunkt steht und nicht so sehr die Definition (und mithin die Grenzen!) einer literarischen Gattung. Am Anfang steht so etwas wie ein Credo:
In einer Blume zeigt sich die Welt, in einem Sandkorn, in einem Blitz, im langsamen Zug der Wolken über das Gebirge. Und überall bin ich zu Hause, bei den Gräsern am Pfad und dem Kiesel, den ich am Fluss auflese und zwischen den Fingern spüre (…) (S. 5)

Und eine klar formulierte Absicht:

(…) die wirkliche Welt zu sehen und zu spüren, die Normalität der Wolken, der Berge, der Vögel und Blumen (…) (S. 5)

Das Buch lädt die Leserin / den Leser ein, sich mit dem Autor auf einen überaus offenen Pilgerpfad zu begeben:

Das Wohin ist fast gleichgültig. Es ist das Gehen selbst, die Verbindung des Atems mit dem offenen Himmel, die Berührung von Haut und Wind, die Empfindung des Bodens beim Aufsetzen der Füße mitten in der flutenden Kraft unserer Sonne. Je schmaler der Weg, umso besser. (S. 5)

Die Poetik folgt der Empirie:

Wir erinnern nicht Jahre, sondern Momente. (…) (S. 5)

Der Autor lädt dazu ein, daß „wir unsere Geschichten teilen“. (S. 6) An anderer Stelle führt er näher aus, was er damit meint:

Vielleicht, wenn einer die Worte und Bilder als Worte und Bilder erkennt, lässt er auch andere neben den eigenen gelten. Weil alles, was sich aufrichtig müht, eine Ansicht der Wahrheit in sich trägt, die Wahrheit aber nicht durch ein Bild oder ein Wort allein ausgedrückt werden kann, zu ihr sich aber die vielen Bilder und Worte ergänzen. (S. 13f)

Das paßt zu dem, was der Ire John O’Donohue bei seinen Landsleuten beobachtet hat:

(…) vorsichtige, indirekte Bemerkungen, die im Gesprächsverlauf erst ganz langsam eine Richtung einschlugen, mit „Möglicherweise …“, „Es wäre vielleicht interessant …“, „Man könnte doch mal …“ (S. 22)

Für jene Toleranz des „Geschichten-Teilens“ könnte über weite Strecken auch die chinesische Kultur Pate stehen:

So verwundert es nicht, dass es in der Vergangenheit zwar Konkurrenz zwischen den Religionen gab, aber, da die scharfen spirituellen Bekenntnisse fehlen, nichts, das an Glaubenskriege erinnert. (…) (S. 42)
Friebels Wege führen unter anderem ins antike Griechenland, nach Irland und Richtung Nordkap, nach Indien und China, Laos, Vietnam, ins Land der Maya und nach Marokko. Nicht nur „Orte“, auch die Zeiten werden durchlässig auf diesen „Wanderungen“:

(…) Wo sind die hin, die hier lebten? Sie sind in uns. Wer aber wir sind, wissen wir nicht. Wir wissen nur, was wir tun. Wir wandern. (S. 38)

Einen geistigen Wegbegleiter, Hermann Hesse, hebt Friebel besonders hervor, seinen „Einfluss“ präzisierend:

(…) So schätzte ich den berühmten Schriftsteller seines Lebens wegen, nicht wegen der Bücher. (S. 55)
Eines der Bücher, „Knulp“, hebt er dann doch hervor – wohl nicht zuletzt des Freispruches wegen, den die Titelfigur von Gottes Seite erfährt:

„Siehst du nicht, dass du deswegen ein Leichtfuß und ein Vagabund sein musstest, damit du überall ein Stück Kindertorheit und Kinderlachen hineintragen konntest? (…) (S. 56)

Neben einer Prosa, die Natur und Geschichte auftut, Topografisches und Kulturgeschichtliches der Leserin / dem Leser konzentriert und wohldosiert buchstäblich „zum Besten gibt“ und dabei immer wieder zum Prosagedicht changiert, sind es die Farbfotos und vielleicht mehr noch die Haiku, die mir zu „Inbildern“ werden. Ein ebenso kurzes wie zwingendes Beispiel dafür, wie sich Haiku und Prosa durchdringen:

Aus dem Brandkraut
starrt ein Hund, am Hals
der gerissene Strick.

Wir drehen uns nicht um. (S. 12)

Natur und Geschichte – beide finden Raum in einem einzigen Haiku:

Nach den Urnen der Kaiser
Grillenzirpen.
Und Wind. (S. 62)

Geschichte erfährt im Haiku beides – äußerste Verdichtung und Nachhall:

Maria Buch –
draußen liegt Schnee. Ein Schatten
läutet die Glocke. (S. 40)

Unbeschadet des spezifischen Kontextes (einer indischen Feuerbestattung) hat etwa das folgende Haiku eine Bildkraft, die kulturelle Grenzen durchlässig werden lässt, ohne sie zu verwischen:

Holzstapel.
Vor dem brennenden Tod
legt ein Boot ab. (S. 30)

Ein empathischer, an Issa geschulter Blick nimmt auch die Mitgeschöpfe in ihrer Endlichkeit, Vergänglichkeit, Sterblichkeit wahr:

Am Fischstand:
So viele Augen
in einer Bastschale! (S. 49)

Ein Haiku kommt ganz in seinem Schlußwort zu stehen, seinem Schillern nach Raum und Zeit:

Weiße Gesichter
von Blumen. Die Schritte der Pilger –
vorbei. (S. 8)

Verblüffend, daß dem ganz und gar der Immanenz verschworenen Haiku ein Inbild gelingt für das Inkommensurable der Transzendenz:

Hang des Parnass.
Über Ziegen
die Himmelsweide. (S. 8)

Im Blick auf Yukatan entstand ein Text, der sich so lesen lässt, als würden Reise und Wanderschaft einerseits und Seßhaftigkeit andererseits kontrastiert:

Schwalben segeln
am Meer. Reglos die Leguane
in ihren Häusern. (S. 68)

Unterwegs-Sein – das Lebensmodell der (Wander-)Vögel, das sich manchmal nur gleichsam virtuell nachvollziehen läßt:

Vom Klippenrand –
mit dem Schrei der Möwen hinein
in den Himmel. (S. 23)

 

Ersteinstellung: 15.06.2017