Haiku in der deutschsprachigen Lyrik

Buchbesprechung von Volker Friebel

 

Andreas Wittbrodt (2005): Hototogisu ist keine Nachtigall. Traditionelle japanische Gedichtformen in der deutschsprachigen Lyrik (1849-1999). Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht unipress, 480 Seiten, 62,00 Euro.

Begonnen haben Haiku und Tanka bei uns als Übertragung. 1849 veröffentlichte August Pfizmaier (1808-1887) in den Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (Wien) ein erstes Tanka im Original und übersetzt. Zunächst wurde oft versucht, für diese Formen Entsprechungen aus der europäischen Lyrik zu finden, so stellten mehrere Übersetzer etwa Tanka durch Distichen dar, den Oberstollen als Hexameter, den Unterstollen als Pentameter. Nach einigen Anthologien, die wenig oder keine Resonanz fanden, erschien 1894 „Dichtergrüße aus dem Osten“ von Karl Florenz, das 14 Auflagen erlebte, eine Auswahl vor allem alter japanischer Tanka, aber auch Langgedichte, in manchmal stark veränderter Zeilenzahl und in Reimen, ein aufgenommenes Haiku erscheint etwa fünfzeilig (mit 47 Silben!) und gereimt – immerhin übertragen aus den Originalen. Im Laufe der Jahrzehnte sind solche Versuche, traditionelle japanische Dichtung in traditionelle europäische Formen zu gießen, gänzlich versiegt, sicherlich nicht nur infolge der Auflösung unserer eigenen Lyrikformen. Auch eine größere Offenheit gegenüber dem Fremden, Anderen mag eine Rolle spielen, oder eine Angleichung der Kulturen, zumindest in ihrem Literaturverständnis.

Wann wurde das erste Haiku auf Deutsch geschrieben? Wittbrodt räumt einige Mythen aus. So haben etwa Arno Holz und Paul Ernst nie Haiku gedichtet, vermutlich gar keine gekannt, bei den aus ihrem Werk in die „Anthologie der Deutschen Haiku“ (Sakanishi und Mitarbeiter, 1978) aufgenommenen Dreizeilern handelt es sich um Teile aus längeren Gedichten. Die beiden wohl ersten „echten“ original deutschsprachigen Haiku stammen wahrscheinlich von Hans Kanzius, verfasst während eines Japanaufenthalts zwischen 1914 und 1920, gedruckt allerdings erst 1978 in der Anthologie von Sakanishi.

Deutschsprachige Haiku erschienen aber bereits in den 1920er Jahren. Sie stammen von Franz Blei (1871-1942, Veröffentlichung von zehn Haiku 1925, Wittbrodt zufolge nicht ganz ernst gemeint), Yvan Goll (1891-1950, erste Haiku-Veröffentlichung 1926: „Zwölf Haikai’s der Liebe“, insgesamt schrieb Goll 53 Haiku) und Rainer Maria Rilke (1875-1926, drei Haiku, zwei davon auf Französisch, vielleicht kann man Rilkes Grabspruch als ein viertes Haiku ansehen; veröffentlicht erst im Nachlass 1955), alle geschrieben unter dem Einfluss französischer Übersetzungen.

In der Folge geht Wittbrodt über eine sich auftuende Lücke auf den eigentlichen Beginn der deutschsprachigen Haiku-Tradition in den 1960er Jahren ein, bis zum Abschluss seiner Literatursuche 1999 – allerdings knapper. Überhaupt wird eine Einschränkung der Berücksichtigung von Haiku-Dichtern bei Wittbrodt immer wichtiger: Er beschäftigt sich fast nur (die ganz frühen Autoren abgerechnet) mit Versen bekannter Schriftsteller, untersucht also vorrangig die Frage, inwieweit japanische Gedichtformen das Werk von im Deutschen bereits hervorgetretenen Dichtern beeinflusst haben. Wittbrodt beschränkt seine Literaturübersicht in diesem Hauptteil seiner Arbeit also auf wenige Haiku- und Tanka-Dichter, untersucht diese aber recht genau und beleuchtet bei den wichtigsten auch die Stellung japanischer Dichtformen in ihrem Gesamtwerk.

Die Untersuchung Wittbrodts gabelt sich dazu. Ein großes Kapitel untersucht Veröffentlichungen, die die japanische Tradition möglichst gut nachzuempfinden versuchen („traditionalistisch“), ein anderes solche, bei denen die Umsetzung in die hiesige Moderne im Vordergrund steht („modernistisch“).

„Traditionalistische Tanka und Haiku seit 1945“: Als erster deutschsprachiger Autor brachte Karl Kleinschmidt (*1913), ein Österreicher, 1953 ein Buch fast ausschließlich mit Haiku heraus („Der schmale Weg“), 1960 dann das Haiku-Buch „Tau auf Gräsern“, das zahlreiche der Haiku von 1953 noch einmal enthält, manche überarbeitet. Flandrina von Salis (*1923) veröffentlichte mit „Mohnblüten“ 1955 das erste Buch, das ausschließlich Haiku enthält. Diese beiden werden dargestellt, dann geht Wittbrodt sehr ausführlich auf die Haiku-Bücher von Imma von Bodmershof (ab 1962) sowie auf das pseudonym erschienene Haiku-Buch „Gelöstes Haar“ von Manfred Hausmann (1964) ein. Bei beiden werden auch sonstige Werke, so etwa die Romane und Erzählungen von Imma von Bodmershof referiert und in ihrem Bezug zur Weltsicht des Haiku betrachtet.

In der Abteilung „Modernistische Tanka, Haiku und Renshi seit 1945“ werden entsprechend im Wesentlichen die Haiku-Bücher von Uli-Becker (ab 1983), das Haiku-Buch „Nachtwindsucher“ von H.C. Artmann (1984) und das Tanka-Buch von F.C. Delius (1989) besprochen, außerdem verschiedene Renshi (moderne Kettengedichte), die meist von Ooka Makoto oder von Uli Becker initiiert wurden und an denen außer diesen beiden etwa H.C. Artmann, Karin Kiwus, Guntram Vesper und Oskar Pastior teilnahmen.

Ein wichtiges Buch, das meine Erwartung, endlich eine solide Gesamtdarstellung der deutschsprachigen Haiku-Literatur zu bekommen, natürlich nicht erfüllen kann, aber doch eine sehr gute Aufarbeitung der ersten Übertragungen und Versuche in eigener Sprache bietet. Die große Menge der deutschsprachigen Haiku-Veröffentlichungen nach etwa 1960 wartet weiterhin auf ihre Aufarbeitung. Die Arbeit endet 1999, das Netz mit seiner nochmaligen Intensivierung der Auseinandersetzung mit japanischen Dichtformen ist also ganz ausgespart. Das Werk ist sehr empfehlenswert, wenn sich jemand über die Anfänge japanischer Dichtformen im Deutschen informieren möchte,(streckenweise allerdings etwas langatmig geschrieben) – und hoffentlich eine Ermunterung für andere, sich wissenschaftlich ähnlich gründlich mit der mittleren und späteren Zeit zu beschäftigen.

 

Ersteinstellung: Aktuell 30.04.2007