Sabine Sommerkamp (2023): Der Einfluss des Haiku auf Imagismus und jüngere Moderne

Rezension von Rüdiger Jung

 

Sabine Sommerkamp (2023): Der Einfluss des Haiku auf Imagismus und jüngere Moderne. Studien zur englischen und amerikanischen Lyrik. Iudicium Verlag, München. 428 Seiten. 29 Abb., Hardcover, geb., Format: 17 x 25 cm. ISBN 978-3-86205-603-6, E-Book / pdf: ISBN 978-3-86205-974-4.

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Eine „1984 als Dissertationsdruck erschienene Doktorarbeit“ wird „fast vier Jahrzehnte später als Buch verlegt“. 1986 „begann der Germanistik-Professor Kenji Takeda (…) mit der Übersetzung der Dissertation in’s Japanische und der kapitelweisen Publikation in der Hochschulschrift der Kobe-Gakuin-Universität.“ „Eine Übersetzung der Dissertation in’s Englische ist nahezu abgeschlossen“. (S. 417) – Ein Standardwerk!

Was zeichnet es aus? „Unter anderem der reiche Fundus an Material, neben den mehr als 900 zitierten Literaturangaben, vor allem die neuen, bis dahin nicht veröffentlichten Quellen, die aus persönlichen Korrespondenzen, Gesprächen und live-Interviews entstanden.“ „Im Zuge der Recherchen für die Dissertation machte“ die Autorin „Anfang 1981 eine mehrmonatige Forschungsreise in die USA und nach Kanada, um unter anderem wichtige Schlüsselfiguren der „Beat Generation“ zu interviewen, wie Allen Ginsberg, Gary Snyder, Gregory Corso, Philip Whalen, Lawrence Ferlinghetti und Kenneth Rexroth, Gespräche und Korrespondenzen mit Spezialisten für japanische Lyrik zu führen, wie Earl Roy Miner (Princeton University), Makoto Ueda (Stanford University), Northrop Frye (Toronto University)“ (S. 419).

Sabine Sommerkamp verweist auf „The Narrow Road to the Far West – Stationen einer Forschungsreise“, ein Album, in dem auch und nicht zuletzt anhand von Fotos persönliche Eindrücke festgehalten sind (http://www.sabine-sommerkamp.de/images/pdf/sabine_sommerkamp-the_narrow_road_to_the_far_west.pdf). 12 ausgewählte Fotos daraus stellt sie am Ende des Buches vor – die ersten beiden zeigen sie mit Allen Ginsberg (S. 421), das abschließende zeigt die Autorin im Gespräch mit Leonard Cohen über sein Anfang der 60er Jahre entstandenes Gedicht „Summer Haiku“ – das wahrscheinlich erste Haiku eines bekannten kanadischen Dichters“. (S. 426).

Zu Beginn ihrer Arbeit benennt Sabine Sommerkamp die grundlegenden Charakteristika der Haiku-Dichtung:
1. „Siebzehn onji“ (S. 21, Anm. 5) „in der Gruppierung 5-7-5“ (S. 21)
2. „das Gedicht“ muss „sich auf ein einziges Ereignis beziehen“
3. „Drittens handelt es sich bei diesem Ereignis um einen unmittelbaren Vorgang in der Gegenwart.“
4. „allgemeine Verständlichkeit“ (S. 23 )
5. „kigo, Jahreszeitentwort“
6. „zwei scheinbar beziehungslose Teile“ verbinden „sich zu einer umfassenden Aussage“ (S. 24)
7. „ein tiefer, verborgener Sinn“ wird „transparent“ (S. 25)

Für den Weg des Haiku in den Westen sind nicht zuletzt die japanischen Farbholzschnitte entscheidend, die im Zeitalter des Impressionismus Interesse und Faszination wecken (S. 32ff. ). „Der Imagismus ist eine Bewegung, die aus der Zusammenarbeit einiger junger Engländer und Amerikaner in London zwischen 1909 und 1917 hervorging“ (S. 37) „Statt beschreibender Dauer suchte man die Präsentation eines einzigen Augenblicks, indem man alles Redundante strich und die Wirkung des Gedichtes durch ein zentrales Bild auslöste.“ Ziel: „ein Höchstmaß an 0bjektivität”. (S. 38) Zwei Sätze T.E. Hulmes mögen die imagistischen Grundsätze illustrieren: „Thought is prior to language and consists in the simultaneous presentation to the mind of two different images.“ (S. 43) Und: „It is essential to prove that beauty may be in small, dry things“. (S. 45)

Die Dichter-Persönlichkeit, die der Begriff „Imagismus“ wohl als erste evoziert, ist Ezra Pound. Sein poetisches Postulat, bereits im Jahre 1908: „To paint the thing as I see it“. (S. 49) Besonders ein Gedicht wird immer wieder zitiert, wenn es um den Einfluss des Haiku geht:

The apparition of these faces in the crowd:
Petals, on a wet, black bough. (S. 51)

Aus dem Haiku leitete Pound „das für den Imagismus wichtigste Stilmittel der Bildüberblendung, die ’super-pository technique‘, ab.“ (S. 53) Überdies spielen die chinesischen Schriftzeichen für ihn eine zentrale Rolle:

… (the) Chinese ideogram does not try to be the picture of a sound, or to be a written sign recalling a sound, but it is still the picture of a thing … It means the thing or the action or situation, or quality germane to the several things that it pictures. (S. 62)

Sabine Sommerkamp zieht das Fazit:

Trotz Nichtberücksichtigung des verborgenen Sinns entwickelte Pound einige wesentliche Bausteine seiner Dichtung aus dem japanischen Dreizeiler: die Technik der „super-position“, die Theorie des „Image“, die Möglichkeiten einer ideographischen Bilderschrift. (S. 63)

Nach F.S. Flint, Hilda Doolittle und Richard Aldington nimmt Sommerkamp vor allem Amy Lowell und John Gould Fletcher näher in den Blick, mithin jene beiden, die sich nicht in der formalen Nachahmung des Haiku erschöpfen, sondern bereits stärker als andere den inhaltlichen Aspekt im Fokus haben. Fletcher formuliert: „Good hokkus cannot be written in English. The thing we have to follow is not a form, but a spirit“ (S. 83). Essentiell am Zen-Hintergrund des Haiku scheint ihm „the interdependence of man and inanimate nature“ (S.87).

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sieht die Autorin den Einfluss des Haiku keineswegs auf die lyrische Gattung begrenzt. Haiku-Strukturen macht sie überdies im Drama (bei William Butler Yeats) und in der Prosaepik aus (Ernest Hemingway). Eine ganz neue eigene lyrische Adaption der japanischen Poesie liefert Adelaide Crapsey mit dem „Cinquain“, dessen fünf Zeilen an ein Tanka gemahnen, während seine 22 Silben es näher an das Haiku rücken. (S. 104-108).

Nach Carl Sandburg kommt Sommerkamp auf T.S. Eliot und sein Postulat des „0bjective Correlative“ zu sprechen. Mit William Carlos Williams verbindet man sofort den „in Paterson I“ lyrisch integrierten Leitsatz: „Say it, no ideas but in things“ (S. 116), eine der wichtigsten poetologischen Formeln der Moderne und – wie es auf den ersten Blick erscheint – nahezu die Quintessenz des Haiku. Aber, wie die Autorin einschränkend feststellt, „geht Williams analog zu den anderen Imagisten rein verstandesmäßig und nicht wie der ‚haijin‘ meditativ-intuitiv vor“ (S. 118). Mit den „ideograms“ von e.e. cummings bewegt sich die Haiku-Adaption in Richtung der Konkreten Poesie. Wallace Stevens wiederum bezeichnet sich als „influenced by Chinese and Japanese lyrics “ (S. 125 ). Seine 0rientierung am Zen, spezifischer am Begriff des „satori“ scheint auf bei seinem Postulat (formuliert mit den Worten der Autorin), ein Gedicht möge „wie ein Erleuchtungsmoment differenzierter Wahrnehmung wirken, im Leser einen Erkenntnisprozess auslösen“. (S. 131) „Ein gutes Gedicht lebe von der Andeutung, der Konnotation“ (S. 133).

„No abstractions or explanations“ fordert die Beat Generation. ,,Für das Haiku-Verständnis der „beat poets “ bedeutete dies eine vorrangige Betonung der inhaltlichen Seite, und was für die Imagisten zum stilistischen Mittel der „Image“-Gestaltung wurde, stellte für sie eine Form geistiger Bewußtseinserweiterung im Lichte einer neuen Konfession dar.“ (S. 135)

Bei Allen Ginsberg begegnen Haiku „als Bildkerne in „Howl“ (…), identisch mit den (..) „short line pattern“.“ (S. 139) Entscheidend für sein Haiku-Verständnis ist die „juxtaposition from one image to another, without any comment“. (S. 144 ) Bemerkenswert: Ginsberg verspürt eine besondere Affinität zu Kobayashi Issa (S. 159); dasselbe gilt für Jack Kerouac (S. 182), Philip Whalen (S. 210) und Robert BIy (S. 272). Besonderes Lob von Ginsberg erfährt Jack Kerouac: „he’s the only one in the United States who knows how to write haikus“ (S. 166). Kerouac wiederum sieht das große Potential der Haiku-Dichtung in äußerster Einfachheit: „Above all, a Haiku must be very simple“. (S. 168)

Kerouac scheint ohne Zweifel derjenige unter den beat poets zu sein, der für seine Haiku die höchste Anerkennung erfährt. Gleichwohl scheint mir persönlich Gary Snyder nicht minder interessant. Er lernte das Haiku „bereits 1949 im Alter von neunzehn Jahren kennen und war ab 1954 sprachlich in der Lage, japanische Haiku im Original zu lesen. 1953 nahm er „in Berkeley das Studium des Chinesischen und Japanischen“ auf, um „im Mai 1956 für mehrere Jahre in ein zen-buddhistisches Kloster in Japan zu gehen, um neben der japanischen Sprache und Dichtung den Zen-Buddhismus von Grund auf an seiner Quelle zu studieren.“ (S. 184) Das Lernen von der Kiefer, vom Bambus, das Matsuo Bashō allen Haiku-Dichtern ins Stammbuch schrieb, deutet er so: „The seeing is not enough. The artist must get into the thing and feel it inwardly and live its life himself“ (S. 185).

Ich muss gestehen, dass die Tatsache, dass Gary Snyder einen großen Teil seiner Haiku „nicht schriftlich fixiert hat”, ihn für mich besonders interessant, faszinierend, überzeugend macht: „I like the idea of poetry moving in a flow, haiku being like leaves in the stream that floats by, but you don’t just collect the leaves.“ (S. 188) „‚Schweigen‘, ‚Ich-losigkeit‘, ‚So-sein‘ und ‚Leere‘ (…), sabi, wabi, aware und yugen“, Grundbegriffe japanischer Poetik, sind für Snyder prägend. Es erscheint mir überaus nachvollziehbar, dass Sabine Sommerkamp „ihn nicht nur als Haiku-Dichter“, sondern „als haijin, als Haiku-Menschen“ sieht. (S. 208)

Des weiteren bleibt der Bogen groß, den die Autorin den beat poets spannt: Philip Whalen, der „Zen-Mönch“ (S. 209), Gregory Corso, der ,,pure poet“ mit „geringem Interesse am Zen-Buddhismus“, (S. 214). Lawrence Ferlinghetti, für den das Haiku „nicht mehr als eine literarische Modeerscheinung“ ist (S. 219).“

Sabine Sommerkamp fasziniert mich durch ihre stupende Kenntnis der amerikanischen Poesie. Aldous Huxley kommt ebenso in den Blick wie Wystan Hugh Auden (u.a. als Übersetzer Dag Hammarskjölds). J.D. Salinger – auf den Spuren Ernest Hemingways. Die Black Poets. Die Black Mountain Poets (hier gilt das Augenmerk der Autorin neben Charles Olson vor allem Robert Creeley). William Stanley Merwin, der Dichter des „flash“ (S. 270). Cid Corman, für den Sommerkamp einen „nahezu zwanzigjährigen Japanaufenthalt“ namhaft macht „sowie den Umstand, mit einer Japanerin verheiratet zu sein“ (S. 276). Schließlich Kenneth Rexroth, „dessen profunde Sachkenntnis sich nicht zuletzt in seinem umfangreichen Übersetzungswerk chinesischer und japanischer Dichtung niederschlägt“ (S. 280). Für ihn erreicht das englischsprachige Haiku allenfalls „Sentimentality“, aber keineswegs die „sensibility“ der großen japanischen Vorbilder (S. 286).

Im Schlussteil nimmt Sommerkamp die Haiku-Dichtung in England (unter besonderer Berücksichtigung James Kirkups), in Nordamerika (traditionell, „liberated“, experimentell) und Kanada in den BIick, ehe sie Einflüsse des Haiku in einem sehr viel breiteren Kontext verortet: das Haiku „verfilmt, vertont, vertanzt“, „im Schulunterricht“, ,,in der Poesietherapie“.

Zusammenfassend ließe sich sagen, dass der Einfluss des Haiku auf Imagismus und jüngere
Moderne einem dialektischen Dreischritt folgt. These: die eher formale Adaption im Imagismus. Antithese: die eher inhaltliche Adaption seitens der „beat poets“. Die Synthese ist noch
nicht greifbar, deutet sich aber an drei Stellen an: Im Charakter des Monostich eines James Kirkup „wird der Schritt zu einem dem japanischen Vorbild nahen, englischsprachigen Haiku, das die beiden diametralen Haiku-Positionen von Imagismus und ,beat poetry‘ in sich vereint, vereinzelt erkennbar.“ (S. 302) Indem er den „unmittelbaren Naturbezug bei der bildtechnischen GestaItung seiner ‚liberated haiku‘ stets wahrt, die, dem Anspruch der Zen-Lehre folgend, ausschließlich auf die sinnliche statt auf die intellektuelle Wahrnehmung zielen, überbrückt Michael McClinstock exemplarisch die beiden diametralen Haiku-Positionen von Imagismus und ,beat poetry‘“ (S. 315).

Das Kapitel zu experimentellen Formen der Haiku-Dichtung in Nordamerika beschließt Sabine Sommerkamp mit der Prognose, die Harold G. Henderson 1964 zu Beginn der englischsprachigen Haiku-Dichtung über deren langfristige Entwicklung äußerte: „Where it comes to establishing standards for haiku written in English ,it does seem likely that our poets will eventually establish norms of their own.“ (S. 324)

Allen Ginsberg schrieb der Autorin – nachzulesen auf der Buchrückseite –: „Thank you so much for excellent survey of haiku … I was surprised how up to date … you extended your study scholarship and sympathetic insight. That’s rare …”

 

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