Bashô-Mythen in Ost und West *

Haruo Shirane

 

Fächerblatt, für Ihre Majestät

O Fächer aus weißer Seide,
klar wie Reif auf einem Grashalm,
auch du wurdest abgelegt.

Ezra Pound 1913

 

Moderne Literaturhistoriker sprechen traditionellerweise von drei aufeinander folgenden großen Schulen des Haikai in der letzten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts – Teinon-, Danrin- und Bashô-Schule – und setzen die Genroku Periode (1688-1704) mit dem „Bashô-Stil“ gleich.  Doch zeigen jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse aus Japan, dass Bashô selbst auf der Höhe seiner Karriere lediglich einer unter vielen prominenten Haikai-Meistern – Gonsui (1650-1722), Shintoku (1633-1698), Onitsura (1661-1738), Raizan (1654-1716), Saikaku (1641-1693), Saimaro (1656-1738) – war und bei weitem nicht den größten Einfluss hatte. (1) In den wichtigen Haikai-Zentren Kyoto, Osaka und Edo dominierten die Schulen der  Teinon- und Danrin-Dichter und solche, die maeku-zuke (wörtlich: „Anhängen an den Vorvers“) praktizierten, was dem Bashô-Stil genau entgegengesetzt war. Die Bashô-Schule konnte in diesen Städten vorerst nicht Fuß fassen. Bashô selbst etablierte sich zunächst in Edo und hatte später eine Basis in Kyoto, doch seine Hauptgefolgschaft bildete sich in den Provinzen, insbesondere in den Gebieten um Owari (Nagoya), Mino (südliches Gifu), Ômi (die Umgebung des Sees Biwa) und Kaga (südliches Ishikawa). Nach Bashôs Tod sammelten sich eigene Gefolgschaften um dessen Schüler und seine Schule verschwand bald. Und dennoch wurde, einhundert Jahre nach seinem Tod, Bashô als der Heilige des Haikai verehrt und vergöttert.

Bashô als Gottheit

Wie kam es dazu? Wie andere traditionelle japanische Kunstformen war auch das Haikai, zumindest seit der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts, gesellschaftlich dominiert von der Struktur einer Meister / Schüler-Abstammungslinie, die nicht nur den unmittelbaren Meister ehrte, sondern auch den Gründer der jeweiligen Schule. Obgleich Bashô nicht der berühmteste oder einflussreichste Haikai-Meister der Genroku-Periode war, hatte er die talentierteste Gruppe von Schülern: Kikaku (1661-1707), Ransetsu (1654-1707), Kyorai (1651-1704), Jôsô (1662-1704), Shikô (1665-1731), Sanpû (1647-1732), Yaba (1662-1740), Etsujin (geb. 1665), Sora (1649-1710), Bonchô (gest. 1714), Dohô (1657-1730) und andere. Viele davon wurden berühmte Dichter, die Bashôs Ruf begründeten.

Nach Bashôs Tod etablierten einige dieser Schüler, bzw. deren Schüler, Haikai-Schulen in den Provinzen und fochten dabei häufig leidenschaftliche Rivalitäten aus. Sie förderten den Namen Bashô, indem sie dessen Autorität benutzten und aufwerteten, um ihren örtlichen Einfluss zu erweitern und zu festigen. Die Schüler der Provinzen – die bekanntesten sind wahrscheinlich Shikô, Yaba und Otsuyû (1675-1739) (2) – reisten viel, hielten Vorlesungen, lehrten Haikai und leiteten Kettendichtungs-Treffen. Yaba, ein Schüler aus Edo, der mit Bashô am Ende dessen Meisterlebens zusammenarbeitete, zog 1704 (Hôei 1) nach Nagasaki, reiste durch den Südwesten und etablierte eine große Anhängerschaft in den Gebieten Kyûshû und Chûgoku (Okayama, Hiroshima, Yamaguchi, Shimane, Tottori). Noch einflussreicher war Shikô, dessen Sitz in der Provinz Mino war und der einen Großteil seines Lebens darauf verwandte, den Einflussbereich seiner Mino-Schule auf die Gebiete Hokuriku (Toyama, Fukui, Ishikawa, Niigata), Chûbu (Yamanashi, Nagano, Gifu, Shizuoka, Aichi) und Kyûshû auszudehnen. Im Jahr 1704 verbündete sich Shikô mit Ryôto (1659-1717) und Otsuyû (auch bekannt als Bakurin), die eine große Schule in Ise gegründet hatten. Die Verbindung der Schulen von Mino und Ise, von späteren Haikai-Dichtern als „Shibaku Anhängerschaft“ (shibaku no to) bezeichnet – shi von Shikô und baku von Bakurin –, führte zu einer breiten landesweiten Bewegung. Shikô, der mit Bashô bis an dessen Lebensende zusammenarbeitete, lehrte einen vereinfachten, leicht verständlichen Stil, welcher die Alltagssprache betonte und große Anziehungskraft auf Bürgerliche und besonders auf Anfänger ausübte. (3)

Bashôs unmittelbare Schüler – besonders Kyorai, Kyoriku (1656-1715), Shikô, Rogan (gest. 1693), Dohô und Hokushi (gest. 1718) – waren die ersten, die Texte mit einem Bashô-Bezug zusammenstellten und dessen Lehren aufzeichneten, was ebenfalls half, Bashôs Ansehen zu fördern. Kyorais Kyoraishô (Kyorais Nachlese; EA 1704) und Dohôs Sanzôshi (Drei Büchlein, EA 1702), die meist beachteten Lehrsammlungen, imitierten den Stil der Analekten; und eine Gruppe nahestehender Schüler – Kikaku, Ransetsu, Kyorai, Jôsô, Kyoriku, Shikô, Sanpû, Yaba, Hokushi und Etsujin (4) – wurden von Shikô und späteren Dichtern als die „Zehn Schüler Bashôs“ (Shômôn jittetsu) in Anlehnung an die „Zehn Schüler des Konfuzius“ und die „Zehn Schüler Sakyamunis“ heilig gesprochen. Aber erst in den 1730ern, zu Beginn dessen, was heutige Forscher Revival-(Chûkô)Bewegung nennen (eine von Haikai-Dichtern angeführte Bewegung, die eine Rückkehr zum ursprünglichen Bashô-Stil anstrebte), wurden viele der wichtigsten Texte aus Bashôs Sammlung erstmals verlegt und veröffentlicht. Zum Beispiel wurden die Sieben Haikai-Anthologien (Haikai shichibu shû) von Ryûkyo (1686-1748), in denen man besonders Bashôs Kettendichtung schätzte, zur Hauptvorlage. Die Anthologien wurden 1731 von Ryûkyo erstellt und 1756 einzeln veröffentlicht.
Die Sieben Haikai-Anthologien oder Die Sieben Anthologien (Shichibu shû), wie sie nun genannt wurden, führten die bedeutendsten Haikai-Sammlungen [Wintertage (Fuyu no hi, 1684), Frühlingstage (Haru no hi, 1686), Trostlose Felder (Arano, 1689), Flaschenkürbis (Hisago, 1690), Das Affenmäntelchen (Sarumino, 1691), Ein Sack voll Holzkohle (Sumidawara, 1694) und die Fortsetzung zum Affenmäntelchen (Zoku sarumino, 1698)] einer jeden Stilepoche Bashôs zusammen und zeigten exemplarisch dessen Auffassung von Neuheit und ständiger Veränderung. (5)

Die Bashô-Revival-Bewegung, zunächst angeführt von Taigi (1709-1771) und später von Buson (1716-1783), wurde in den 1760ern führend und erreichte zwischen 1770 und 1780, während der An’ei (1772-1781) und Tenmei (1781-1789) -Epoche ihren Höhepunkt. Es war eine bemerkenswerte Periode, die das Aufblühen talentierter Dichter des ganzen Landes erlebte: darunter waren Buson, Taigi, Chômu (1732-1795) aus Kyoto, Ryôta (1718-1787) und Shirao (1738-1791) aus Edo, Kyôtai (1732-1792) aus Nagoya, Bakusui (1718-1783) und Rankô (1726-1798) aus Kaga und Chora (1729-1780) aus Ise. Die meisten dieser Haikai-Meister stammten ursprünglich aus den Provinzschulen von Mino/Ise (Shibaku). Eine andere, kleinere Gruppe – Ryôta, Taigi, Buson – hatte ihre Wurzeln im städtischen Haikai, besonders jene von Kikaku, der ein früher Edo-Schüler Bashôs war.

Enttäuscht von der Degeneration sowohl des städtischen als auch des provinziellen Haikai und dessen Umfeld, besannen sich diese Dichter auf die literarische und historische Vergangenheit, auf die chinesische Literatur und Malerei, aber vor allem auf Bashôs Dichtung, welche zunehmend eine idealisierte poetische Vergangenheit repräsentierte. Buson, der die Bewegung anführte, drückte seinen Wunsch nach einer Rückkehr zum Stil Bashôs im nachfolgenden Hokku aus:

Der Frosch aus dem alten Teich
altert –
Blätter fallen

Furuike / no / kawazu / oiyuku / ochiba / kana (6)

Old-pond’/s / frog / grows-old/ fallen-leaf/!

Bashôs Frosch, assoziiert mit Frühling, springt nicht mehr in den alten Teich. Stattdessen „altert“ (oiyuku) er, verborgen unter herabfallenden Blättern (ochiba), ein Jahreszeitenwort für Winter; ein Symbol dafür, dass sich die Menschen nicht mehr an den wahren Bashô-Stil erinnern.

Während der Revival-Phase wurde nicht gefragt, ob zum Bashô-Stil zurückgekehrt, sondern vielmehr, welchem der Stile oder Phasen Bashôs nachgeeifert  werden sollte: Buson, Kyôtai und Bakusui beispielsweise bewunderten den frühen Bashô-Stil, besonders den aus Leere Kastanien (Minashiguri, 1683) und Wintertage, wohingegen Ryôta, Chora, Shirao und Rankô dem späten Bashô-Ideal der Leichtigkeit nachfolgten, insbesondere dem sparsamen Stil in Ein Sack voll Holzkohle (1694). Die poetische Debatte dieser Zeit war dominiert von Abhandlungen, die um die Überlegenheit eines Bashô-Stils über einen anderen stritten. Buson, der um 1770 hervortrat, fühlte sich geistesverwandt mit Kikaku, Bashôs Schüler aus Edo, dessen Gepflückte Blüten (Hanatsumi, 1690) ihn zu einer eigenen Fortsetzung Neue gepflückte Blüten (Shin Hanatsumi, veröffentlicht 1797) inspirierte.

Das Bashô-Revival brachte auch eine Reihe vorzüglicher Bashô-Gelehrter hervor – besonders Riichi (1714-1783), Ryôta, Rankô und Chômu (1732-1795) – welche Bashôs Texte verlegten und Biografien ihres Meisters schrieben. (7)

Nicht alle Dichter der Revival-Periode bewunderten Bashô: Ryotai (1719-1774), besser bekannt als der Kokugaku-(„Nationales Studium“)- Gelehrte Takebe Ayatari, und Ueda Akinari (1734-1809), ein Kokugaku-Gelehrter und Romancier, kritisierten Bashô grundlegend. Akinari beispielsweise war der Ansicht, dass Bashôs Haltung eines eremitenhaften Reisenden sowohl scheinheilig als auch anachronistisch sei: Im Gegensatz zu Saigyô und Sôgi, die in Zeiten des Aufruhrs gelebt hatten, bestand für Bashô keine Notwendigkeit, ein Wanderer zu sein. Aber mit dem Ende des Revivals in den 1790ern – Buson starb 1783 und Kyôtai 1792 – wurde Bashô zunehmend vergöttert und selbst diese Art der Kritik verschwand. Der achtzigste (1773 – An’ei 2) und der neunzigste Jahrestag (Tenmei 3) seines Todes wurden zu wichtigen Anlässen, um Bashô und seine Dichtung zu feiern. Unübertroffen aber war das Ausmaß der Hundertjahrfeier 1793: Hunderte von Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen (kuyô, oder Opferdarbietungen für die Toten), einschließlich Errichtungen von Gedenksteinen, wurden im ganzen Lande zelebriert.

Bald nach Bashôs Tod begannen dessen Schüler Gedenksteine (tsuka) zu errichten, üblicherweise enthielten diese die Gravur „Bashô der Älteste“ (Bashô ô), vermutlich eine Nachahmung der Inschrift auf Bashôs Grabstein am Gichûji Tempel. (8) Tsuka, graviert mit einem bedeutenden Bashô-Hokku, waren sogar noch populärer und wurden zu Stätten der Verehrung, an denen Besucher mit Bashô durch dessen Hokku kommunizieren konnten. Der Geist Bashôs wurde auf rituelle Weise transferiert vom Gichûji Tempel zu den neuen tsuka, die allesamt zu einer Art Tempelniederlassung wurden. Ein Erinnerungsgegenstand an Bashô wurde unter dem Stein vergraben, um dessen Geist zu bewahren. Jedes Jahr wollten sich Haikai-Dichter am örtlichen Bashôzuka, dem Bashô-Gedenkstein, versammeln, um ihren Respekt zu bezeugen und zu dichten. Obgleich Gedenksteine mit eingravierten Versen auch für andere Dichter der modernen und prämodernen Zeit errichtet wurden, kann man dies nicht mit den tsuka für Bashô vergleichen, von denen es am Ende der Tokugawa Periode beinahe tausend gab. Die Shibaku-Schule pflegte diese Methode des Proselytismus – ihre Initiationsriten für Haikai-Meister beinhalteten üblicherweise die Errichtung eines tsuka für Bashô – und dieses Verfahren setzte sich fort bis in die Revival-Phase, in der Chômu und andere den Gichûji Tempel zu einem zentralen Ort der Bashô-Verehrung verwandelten. An seinem hundertsten Todestag wurde ein Shintô-Schrein in Kyûshû gebaut, der Bashô als Gottheit (Tôsei reijin) (9) zelebrierte, ein ähnlicher Schrein wurde in Shinshû (Nagano) erstellt. Sogar die Familie Nijô, die eine konservative Linie innerhalb der klassischen Dichtkunst repräsentierte, sprach Bashô postum den Titel eines „Großmeisters der orthodoxen Abstammungslinie“ (Shôfû sôshí) zu, was implizierte, dass Bashô nicht länger nur ein Genroku Haikai-Dichter war, sondern symbolischer Begründer und autorisierter Meister des Haikai. 1806 verlieh der Kaiserliche Hof Bashô, in Anspielung an das berühmte Frosch-Gedicht, den Titel „Springender Klanggott“ (Hion myôjin).

Bashôs postume Popularität kann teilweise auf dessen Bild als dichtender Einsiedler und unaufhörlich Reisender, als Asket auf der Suche nach innerem Frieden zurückgeführt werden. Ein Bild, das hauptsächlich von seinen Schülern und den Epigonen seiner Dichtkunst konstruiert wurde. Wie Ogata Tsutomu angeführt hat, übte dieses Bashô-Bild des Außenseiters, der Unabhängigkeit von sozialen und materiellen Bindungen anstrebt, erheblichen Reiz auf die Tokugawa-Bevölkerung aus, die in ein starres und hierarchisches Vierklassensystem gezwängt war. (10) In dieser Hinsicht vergleichbar ist nur Saigyô (1118-1190), der späte Heian Waka-Dichter und Priester, den Bashô bewunderte und nachahmte und dessen Bild letztendlich von dem Bashôs überlagert wurde. Bezeichnenderweise war der Saigyô, den Bashô und viele seiner Zeitgenossen verehrten, überwiegend von einer legendären Figur abgeleitet. Diese ist in den Geschichten von Saigyô (Saigyô monogatari, ca. 1480) zu finden, worin ein reisender Dichter geschildert wird, der sich hingebungsvoll der spirituellen Erweckung widmet.

Bewusst oder unbewusst wurde das Bild Bashôs von seinen späteren Schülern mit dem seiner poetischen und religiösen Vorgänger verschmolzen. In Gedenken an Bashô, den Ältesten (Bashô ô gyôjô ki,1695 herausgegeben von Rotsû) wird erwähnt, dass Bashô der „Tu Fu von Japan“ war, „der heutige Saigyô“, die Reinkarnation von Yoshida Kenkô (1274-1338), und der geistige Zwilling von Sôgi. Die Shikô Schule stellte Bashô als einen wandernden Bettelpriester dar, vergleichbar mit jenen der Ji-Sekte. Dies ist die weit verbreitete buddhistische Sekte des Reinen Landes (Jôdô), gegründet vom Priester Ippen (1239-1289), der, das nenbutsu (der heilige Name Amida Buddhas) rezitierend, durch die Provinzen reiste. (11)

Chômu, einer der Führer des Bashô-Revivals und ein Priester der Ji-Reines-Land-Sekte, verstärkte das Bild des wandernden Bettelmönches mit seinem Buch Bebildertes Leben von Bashô, dem Ältesten (Bashô ô ekotobaden; 1792, mit Malereien von Kanô Shôei). Es war die erste bedeutende Biografie über Bashô, welche zur Hundertjahrfeier von Bashôs Tod dem Gichûji Tempel als Opfergabe dargereicht wurde. Bebildertes Leben von Bashô, dem Ältesten hatte Bebildertes Leben von Priester Ippen (Ippen hijiri e)  zum Vorbild und gewann tief greifenden Einfluss auf die Bashô-Rezeption. Bashô wurde als ruhelos Reisender porträtiert, spirituell erweckt durch ein tief reichendes Bewusstsein der buddhistischen Wahrheit von der Unbeständigkeit. Sein postumes Bild wurde dadurch mehr und mehr denjenigen von Saigyô und Ippen angeglichen, die beide im Laufe der mittelalterlichen Epoche mittels der Tradition bebilderter Biografien von Wanderheiligen popularisiert worden waren. Bashôs poetische und religiöse Vorgänger wurden allmählich diesem Bashô-Bild einverleibt, bis er schließlich sowohl die ultimative Verkörperung eines japanischen Wanderdichters als auch eines Haikai-Heiligen wurde. Kurzum, Brennpunkt seiner Heiligsprechung war, zumindest im Anfangsstadium, nicht nur seine Dichtkunst – das Frosch-Gedicht wurde bereits sehr früh berühmt – sondern sein volkstümliches Image. Das führte dazu, dass Bashôs Poesie und Prosa weiterhin überwiegend im Lichte seines Lebens und seiner Person gelesen wird. Für viele wurde das zum Bewertungsmaßstab.

Masaoka Shiki und die neuzeitliche Rezeption

Masaoka Shiki (1867-1902), der Pionier des neuzeitlichen japanischen Haiku, führte eine beißende Attacke gegen Bashô in „Gespräch über Bashô“ („Bashô zôdan“), als Fortsetzung erschienen in der Zeitung Nihon (Japan) von 1893 bis 1894. (12) Shiki kritisierte die Bashô-Schule als Haikai-Kult, der Bashô als Gott verehre und dessen Verse als heilige Schriften betrachte. Zu dieser Zeit eine Blasphemie, erklärte Shiki, von den tausend Hokku Bashôs seien nur wenige hundert überhaupt einer Auseinandersetzung wert; der Rest wäre missraten. Shiki anerkannte dennoch, dass die übrigen Gedichte eine große Leistung darstellten, besonders diejenigen, die „Größe und Erhabenheit“ (yûkon gôsô) (13) erkennen ließen, aber Bashô wurde nicht länger als Haikai-Heiliger gesehen. Die Leser sollten stattdessen ein kritisches und skeptisches Auge auf seine Schriften werfen. Ungefähr zur selben Zeit entdeckte Shiki den Dichter Buson, der von den Gelehrten bisher weitgehend ignoriert worden war, und der ihm Möglichkeiten für objektive Verse jenseits von Bashô eröffnete. 1897 (Meiji 30) begann er Der Haiku-Dichter Buson (Haijin Buson, 1899 als Buch erschienen) in Fortsetzungen zu veröffentlichen. Darin stellte Shiki Buson über den berühmteren Bashô und erklärte ihn in darwinscher Evolutionsterminologie als „höher entwickelt“.

In Gespräch über Bashô verurteilte Shiki ebenso die Kettendichtung des Haikai, die er als triviales Gesellschaftsspiel betrachtete. Er verkündete, nur die Hokku, die siebzehnsilbigen Eröffnungsverse, welche er als „Haiku“ bezeichnete, seien wertvoll. „Das Hokku ist Literatur. Renga und Haikai sind es nicht.“ „Kettendichtung betont die Abwechslung, ein nicht-literarisches Element.“ (14) Kettendichtung, mit ihrer ständigen Bewegung und ihrer Anlehnung an das, was Shiki „Wissen“ (chishiki) nannte – im Gegensatz zu „Gefühl“ (kanjô) – war inkompatibel mit seiner Betonung einer neuzeitlichen Auffassung der literarischen Einheit und des individuellen Selbst. Mit der Meiji-Periode war Haikai als Kettendichtung mehr oder weniger verschwunden. Zurück blieben nur die unabhängigen Hokku oder Haiku. Die Charakteränderung des literarischen Genres, die Verlagerung hin zu einer neuzeitlichen literarischen Auffassung, wie sie durch Shikis Ausführungen unterstrichen wurde, in Verbindung mit der früheren Tokugawa-Rezeption Bashôs als abgeschiedener Einsiedler und Wanderer, führte jetzt dazu, dass Bashô viel mehr als einzelgängerischer Haiku-Dichter denn als geselliger Haikai-Meister verstanden wurde.

Shiki führte ebenfalls aus, dass sich das Haiku auf den Begriff des shajitsu oder shasei, „Skizzen aus dem Leben“, stützen sollte, auf die direkte, individuelle Beobachtung der äußeren Welt, worin er den Schlüssel zur Modernisierung des Haiku sah. Um die Jahre 1893 und 1894 (Meiji 26-27) begegnete Shiki einer Gruppe von Malern, die im westlichen Stil (yôga) arbeiteten. Der berühmteste unter ihnen war Nakamura Fusetsu. Diese führten ihn in den Begriff des shasei ein, ein zeichnerisches Ideal des unmittelbaren Skizzierens nach dem Leben. (15) Anfangs benutzte Shiki shasei als Schlagwort, um zu einer Zeit, als das traditionelle Haikai in festen Konzepten und Konventionen erstarrt war, das „wahre Gefühl oder Empfinden“ (jikkan) wieder aufleben zu lassen. Aber der Begriff wurde mit Objektivität und Mimesis verknüpft. (16) In Der Haiku-Dichter Buson betrachtete Shiki Buson als den Entdecker „objektiver Schönheit“ (kyakkanteki bi) und „aktiver Schönheit“ (sekkyokuteki bi), im Gegensatz zu Bashô, den er für einen „subjektiven“ (shukanteki) Dichter hielt und als Pionier „passiver Schönheit“ (shôkyokuteki bi) ansah, was er anhand des Begriffes sabi (Obertöne der Stille, meditative Einsamkeit) beispielhaft darlegte. Zunächst bezog Shiki den Begriff des shasei sowohl auf die Natur als auch auf menschliche Angelegenheiten. Aber gegen Ende seines Lebens glaubte er, wie in seinem Essay „Sechs-Fuß-breites Krankenbett“ (Byôshô rokushaku; 1902) dargestellt ist, dass man die Dichtkunst des shasei nur auf die Natur anwenden und menschliche Angelegenheiten dem neuzeitlichen Roman überlassen sollte. Eine Einstellung, die tief greifenden Einfluss auf die Zukunft des neuzeitlichen Haiku hatte.

Bashōs Fall vom Sockel der Verherrlichung hatte ironischerweise den Effekt, dass die Debatte über die relativen Verdienste von Bashōs Werk eröffnet und das Interesse neuzeitlicher Autoren jenseits der Haikai-Welt geweckt wurde, auf die dessen literarischer Einfluss während der Tokugawa-Periode überwiegend beschränkt war. Seines göttlichen Status entledigt, wurde Bashô als „menschliches Wesen“ lebendig und fesselte die Vorstellungskraft neuzeitlicher Romanciers und Dichter, einschließlich der shijin (Dichter im freiformatigen westlichen Stil) und der neuzeitlichen Tanka-Dichter. Das Interesse wandte sich dem „Menschen“ Bashô zu, dem marginalisierten Künstler, dessen Leiden an und Fremdheit gegenüber der Gesellschaft sich im neuzeitlichen Individuum wieder zu finden schienen. Beispielsweise sahen Kitamura Tôkoku (1868-1894) und Shimazaki Tôson (1872-1943), beide sowohl shijin als auch prominente Mitglieder des Bungakukai (eine romantische Bewegung, die in den 1890er Jahren aufblühte), Bashô als einen idealen „Dichter“ (shijin) (17) an.

Das neuzeitliche Haiku bewegte sich ab Mitte der Meiji-Periode in zwei gegensätzliche Richtungen: einerseits hin zu den neuesten Bewegungen der zeitgenössischen Kunst und Literatur, insbesondere der Dichtung im westlichen Stil (shi), und andererseits hin zur erneuten Bestätigung der traditionellen und historischen Wurzeln des Haiku. Im Gegensatz zur ersten Richtung, welche die neuesten literarischen und Avantgarde-Bewegungen in das Haiku zu assimilieren versuchte, blickte die zweite auf eine frühere, traditionelle Sicht des Haikai zurück. Hirai Shôbin deutet an, dass diese beiden großen Bewegungen der Neuzeit oftmals durch Bashô bzw. Buson symbolisiert werden. (18) Im Gegensatz zu Buson, der mit einer Reihe modernistischer Bewegungen und mit europäischer Dichtung assoziiert wurde, betrachtete man Bashô als einen „japanischen Dichter“, dessen Poesie die ursprüngliche Essenz des Haiku verkörperte und der die „japanische Tradition“ repräsentierte. Kawahigashi Hekigodô (1873-1937), einer von Shikis direkten Nachfolgern, hielt Buson für den „besten Dichter der Vergangenheit und Gegenwart“ (Haikai Plauderei; 1903) (19) und kritisierte Bashôs Frosch-Gedicht wegen dessen Mangel an objektiver Beschreibung: „Wenn man untersucht, ob dieser Frosch singt oder hüpft, ob da ein Frosch ist oder mehrere sind, ob es sich um eine Nachmittags- oder Abendszene handelt oder wo sich der Autor befindet, erkennt man, dass dieser Vers zur Gänze unvollendet ist.“ Shikis zweiter wichtiger Schüler, Takahama Kyoshi (1874-1959), der in Opposition zu Hekigodôs Neuer Haiku-Richtung (Shinkeikô) stand, favorisierte im Gegensatz dazu Bashô, insbesondere den gedämpften, eindringlichen Sabi-Stil des Genroku-Haikai. In einer Reihe von Artikeln in Hototogisu (Kuckuck) von 1903 bis 1904, zog Kyoshi die Aufmerksamkeit auf den „passiven“ (shôkyokuteki) Sabi-Charakter der Genroku-Periode, den zeitgenössische Dichter zu Gunsten einer „aktiven“ (sekkyokuteki) Schönheit der Dichter des Bashô-Revivals ablehnten. (20) Kyoshi, der 1912 von der Prosa zur Haiku-Welt zurückkehrte und diese für die nächsten vierzig Jahre dominierte, betonte traditionelle Elemente, besonders die Verbindung zu jahreszeitlichen Themen, und unternahm viel, um Bashôs Ansehen als Haiku-Dichter wieder zu beleben. Kyoshi, der die Entwicklung von Subjektivität (shukan) betonte, bewunderte die Weise, wie Bashô die Verbindung des Subjektiven mit dem Objektiven bewerkstelligte. (21) 1927 plädierte Kyoshi für den Begriff „Bedichten der Blüten und Vögel“ (kachô fûei), der auf Bashôs Poetik Bezug nahm. Dieser implizierte, dass Gefühle erwartungsgemäß durch die natürlichen Bilder hervortreten würden, sofern der Dichter Abstand nimmt von direktem Gefühlsausdruck und sich konzentriert auf eine Beschreibung der Natur im Kontext der vier Jahreszeiten.

Mizuhara Shûôshi (1892-1981), einer der führenden Schüler Kyoshis, wandte sich gegen seinen Lehrer, indem er die Neue-Haiku-(Shinkô)-Bewegung anführte und Buson gegenüber Bashô bevorzugte. Jedoch brachen 1935 zwei der Anhänger Shûôshis, Ishida Hakyô (1913-1969) und Katô Shûson (1905-1993), mit ihm und schlossen sich der Gruppe „Streben nach Menschlichkeit“ (Ningen tankyû) an – unter der Führung von Nakamura Kusatao (1901-1983) – der nach einem zeitgemäßen Seelenleben suchte und dem hierbei Bashô als Inspiration diente. (22) Die Gruppe Streben nach Menschlichkeit, welche die Haiku-Welt von 1935 an bis zur Nachkriegszeit dominierte, entfachte ein neuzeitliches Bashô-Revival, eine Periode der Forschung und der literarischen Neubeurteilung. Umfangreiche Arbeiten über die Beziehung der Texte Bashôs zu ihren klassischen und chinesischen Vorläufern wurden erstellt, und es wurde, besonders nach der Entdeckung der Tagebücher des Sora im Jahre 1943, erkannt, dass vieles in Bashôs Werk – beispielsweise Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland – betont fiktionale Elemente besaß. Yamamoto Kenkichi (1907-1988), ein einflussreicher Literaturkritiker und wichtiger Bashô-Gelehrter, betonte den Begriff des Haikai-Stils (haikai-ness) und dabei ganz besonders die Merkmale des Spiels, des Grußwortes und der Spontaneität. Ogata Tsutomu verteidigte die Idee der Dichtung als gemeinschaftliche, dialogische Tätigkeit (za no bungaku). Diese Forscher waren an einer Rekonstruktion des gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Kontextes von Bashôs Dichtkunst und Prosa interessiert, worin sie einen signifikanten Unterschied gegenüber der neuzeitlichen Betonung auf das Selbst und einer mimetischen Lektüre sahen. In dieser Hinsicht haben sie das Fundament für diese Studie gelegt.

Die Imagisten

Die westliche Rezeption des Haiku und der Dichtung Bashôs wurde tiefgreifend von neuzeitlichen japanischen Annäherungen an das Haiku beeinflusst. Der kritische Diskurs über das Begriffspaar subjektiv / objektiv intensivierte diesen Einfluss noch. Das ist vor allem auf die Wirkung der Imagisten, die in den Jahren nach 1910 in Erscheinung traten, und der in den sechziger Jahren entstandenen nordamerikanischen Haiku-Bewegung zurückzuführen. Die Imagisten waren eine kleine Gruppe englischer und amerikanischer Dichter, zu denen Ezra Pound, Amy Lowell, D.H. Lawrence, William Carlos Williams, H.D., John Gould Fletcher, F.S. Flint und andere zählten. Sie arbeiteten im London des frühen 20. Jahrhunderts, besonders zwischen 1912 und 1914, zusammen. Ihre Dichtung sollte grundlegenden Einfluss auf die Entwicklung von T.S. Eliot, Wallace Stevens und weitere wichtige Dichter des 20. Jahrhunderts haben. Wie René Taupin in der ersten Studie über die imagistische Epoche bemerkte, war der Imagismus weder Doktrin noch Schule, sondern nur eine „Assoziation einiger weniger Dichter, die für eine gewisse Zeit … in wenigen Grundsätzen übereinstimmten.“ (23)  In der März-Ausgabe des Jahres 1913 von Poetry, definierte F.S. Flint folgende Prinzipien:

1. Direkte Wiedergabe der „Sache“, sei sie subjektiv oder objektiv.
2. Verzicht auf die Verwendung von Wörtern, die nicht zur Darstellung beitragen;
3. Hinsichtlich des Rhythmus: Komposition in der Zeitfolge der musikalischen Phrase und nicht nach dem Metronom.

In einem begleitenden Essay lieferte Ezra Pound in einem Satz die Definition einer vierten Regel, die Flint als „eine gewisse Doktrin des Bildes“ bezeichnet:

4. „Ein ‚image’ ist etwas, das einen intellektuellen und emotionalen Komplex innerhalb eines Augenblicks darstellt. (24)

Im Vorwort zu einer der frühesten imagistischen Anthologien mit dem Titel Some Imagist Poets (1915, 1916, 1917), herausgegeben von Amy Lowell, wurden die ursprünglichen drei Regeln auf sechs erweitert:

5. Dichtung hervorbringen, die fest und klar ist, niemals verwaschen oder unbestimmt
6. Letztendlich glauben die meisten von uns, dass die wirkliche Essenz der Dichtung Konzentration ist.

Die Imagisten betonten Konzentration, Direktheit, Präzision und die Unabhängigkeit von metrischen Gesetzen und strebten ein einzelnes, üblicherweise visuelles, dominantes dichterisches Bild oder eine Abfolge verwandter Bilder an. Der imagistische Dichter beabsichtigte Gefühle mitzuteilen, ohne sie direkt zu artikulieren. Dieses Ziel könne erreicht werden, indem ein „Objekt“, oder wie es T.S. Eliot nannte, eine „gegenständliche Entsprechung“ („objective correlation“) präsentiert wird, die im Leser ein besonderes Gefühl errege, ohne dass es der Dichter ausspricht. (26) Obgleich es den Imagisten nicht bewusst war, funktionierte das Jahreszeitenwort (kigo) im Haikai, verankert im gemeinsamen Gedächtnis, wie eine gegenständliche Entsprechung. Es war imstande, durch das, was als objektive Beschreibung der Natur oder der äußeren Welt erschien, Gefühle im Leser zu erwecken.

Auch den Begriff der Juxtaposition (Nebeneinanderstellung, der Übersetzer) hob Pound hervor und betonte insbesondere scharfe Kontraste in Struktur und Farbe, die oft lebhafte, dichte Metaphern hervorbringen – ein Begriff, der, wie wir sehen werden, im Herzen der Haikai-Vorstellung liegt. In einem Artikel in Fortnightly Review (1.9.1914), mit dem Titel „Vortizismus“, schrieb Pound:

„Ein Chinese sagte einmal vor langer Zeit, dass ein Mensch, der das, was er zu sagen hat, nicht in zwölf Zeilen fassen kann, lieber schweigen solle. Die Japaner haben die noch kürzere Form des Hokku entwickelt.

„Die abgefallne Blüte fliegt an ihren Ast zurück:
Ein Schmetterling.“

Das ist der Inhalt eines sehr berühmten Hokku …

Das ‚Ein-Image-Gedicht’ ist eine Form der Überlagerung (auch „Superposition“, der Übersetzer); das heißt, es ist eine Vorstellung, die über eine andere geschichtet ist. Diese Form fand ich von Nutzen, um aus der Sackgasse herauszukommen, in der ich nach meinem Erlebnis in der Metro verblieben war. Ich schrieb ein Gedicht von dreißig Zeilen und vernichtete es, weil es ein Werk ‚untergeordneter Spannkraft’ war, wie wir das nennen. Sechs Monate später machte ich ein Gedicht, das bloß halb so lang war; ein Jahr danach schrieb ich folgenden Hokku-ähnlichen Satz:

„Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge:
Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Zweig.“

Freilich wird es sinnlos bleiben, solange man nicht in eine gewisse Denkbewegung geglitten ist. In einem Gedicht dieser Art versucht man, den genauen Zeitpunkt festzuhalten, in dem eine äußere, objektive Sache in eine innere, subjektive Sache umgebildet wird, bzw. umspringt.“ (27)

Pounds „Superposition“ beinhaltet die Überlagerung eines Bildes mit einem anderen. Später bewegte er sich zu reiner Juxtaposition bzw. zu einer zeitlichen Abfolge von Bildern, die nicht mehr auf eine Singularität reduziert werden können. Dieser Aspekt des Imagismus, dessen Interesse es nicht so sehr war, Gegenstände zu reproduzieren als sie in Bewegung zu bringen (Pound nannte es später Vortizismus), wird in den frühen Ausgaben des Magazins Poetry im April 1913 deutlich.

„Das Erscheinen          dieser Gesichter               in der Menge:
Blütenblätter    auf einem nassen, schwarzen Zweig.“

Hier präsentierte Pound nicht nur zwei Zeilen, sondern fünf sich überschneidende Wahrnehmungen, in denen „eine äußere, objektive Sache in eine innere, subjektive Sache umspringt“. Moderne Poesie und Kunst, wie sie partiell durch die Imagisten verkörpert wurde, betonte den Begriff der Juxtaposition und versuchte, von der darstellenden Kunst („representational art“) ausgelöste Erwartungen zurück zu drängen. Darstellung wurde ersetzt durch den Begriff der „Realisation“ oder durch den der Collage, beide brachen mit einer darstellenden Ebene. Das Haikai betonte faktisch den Begriff der Juxtaposition, aber dieser unterscheidet sich signifikant von dem modernen Begriff einer nicht-darstellenden („non-representational“) Collage. Hierbei ist häufig eine zweifache Lesart der nebeneinander gestellten Texte erforderlich: einerseits als parataktische Collage, andererseits als darstellendes Fragment einer größeren Szene oder Erzählung.

Haiku in englischer Sprache

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand in Amerika plötzlich ein großes Interesse für die japanische Kultur und Religion, insbesondere für den Zen-Buddhismus und das Haiku. Alan Watts, D.T. Suzuki, die Dichter aus San Francisco, die Beatniks (in New York) – besonders Jack Kerouacs The Dharma Bums, ein Bestseller um einen Haiku-dichtenden Protagonisten (Gary Snyder stand hier Pate) – und amerikanische wissenschaftliche Übersetzer wie Donald Keene leisteten ihren Beitrag an dem populären Interesse für das Haiku. Aber am einflussreichsten waren R.H. Blyth, Kenneth Yasuda sowie Harold Henderson mit ihren Büchern – dem vierbändigen Haiku von Blyth (veröffentlicht zwischen 1949 und 1952), Yasudas Japanese Haiku: Its Essential Nature, History, and Possibilities in English (1957) und Hendersons Introduction to Haiku: An Anthology of Poems and Poets from Bashô to Shiki (1958) – die eine sich weit verbreitende Faszination für das Haiku erzeugten. Sie schufen damit die Voraussetzung für eine anglo-amerikanische Haiku-Bewegung, die in den Sechzigern aufblühte und bis heute andauert. (28)

Pound und den Imagisten folgend, richtete Blyth seine Aufmerksamkeit auf den „konkreten Gegenstand“, jedoch ohne Bezugnahme auf den von Pound betonten „intellektuellen und emotionalen Komplex“. Für Blyth war Haiku die Dichtung der „bedeutungsvollen Berührung, des Geschmacks, des Klangs, des Anblicks und des Geruchs“, „die Dichtung der Empfindung“ (29) – im Gegensatz zu einer Dichtung des Gedankens und des Gefühls. Darüber hinaus glaubte Blyth, beeinflusst von D.T. Suzukis Sichtweise des Zen, dass das Lesen und Dichten von Haiku eine spirituelle Erfahrung sei, innerhalb derer sich Dichter und Natur vereinigten. Zen, der in vielen Schriften Blyths nicht mehr vom Haiku unterschieden werden kann, wurde betrachtet als „ein Geisteszustand, in dem wir nicht von anderen Gegenständen getrennt sind, in denen wir wirklich mit ihnen identisch sind und dabei doch unsere eigene Individualität bewahren.“ (30) „Haiku heißt eine Sache begreifen, indem wir unsere eigene ursprüngliche und essentielle Einheit mit ihr realisieren.“ (31) Im letzten seiner Haiku-Bände ging Blyth gar so weit festzustellen, das Haiku sei ein sich „selbst-auslöschendes“ Mittel, um „das Ding-an-sich“ zu erfassen: Wenn das letzte spirituelle Ziel erreicht ist, wird das Haiku entbehrlich. (32) Diese Auffassung des Haiku als einer spirituellen Verschmelzung von Subjekt und Objekt hatte grundlegenden Einfluss auf die nachfolgende westliche Haiku-Rezeption. In The Way of Haiku (1969) schrieb J.W. Hackett, einer der Wegweiser der amerikanischen Haiku-Bewegung: „Ich schrieb in der Überzeugung, dass die besten Haiku aus direkter und unmittelbarer Erfahrung der Natur geschaffen sind und diese intuitive Erfahrung in allen Sprachen ausgedrückt werden kann. Das Wesen des Haiku ist grundlegend existentiell und erfahrungsorientiert, es ist nicht literarisch.“ (33) Bestimmte Elemente in Bashôs Poetik – wie z.B. der Begriff des „Selbst-und-Objekt-als-Eines“ (butsuga ichinyo) und „dem Schöpferischen folgen“ (zôka zuijin) – haben zwar äußerlich Ähnlichkeit mit den Zen-inspirierten Interpretationen, aber sie können nicht in erster Linie aus dem Zen-Buddhismus abgeleitet werden. Sie haben, wie wir noch in Kapitel 9 sehen werden, weniger mit einer unmittelbaren Vereinigung von Dichter und Natur zu tun, als mit dem Bedürfnis des Dichters, die kulturelle Landschaft zu verändern und sich gleichzeitig in ihr zu verwurzeln.

In The Japanese Haiku betonte Kenneth Yasuda, wie zuvor schon Blyth, den „Haiku-Moment“, in dem der Dichter „eine erleuchtete, Nirvana-ähnliche Harmonie“ erreiche und die „Natur des Dichters mit seiner Umgebung vereinigt sei“. (34) Dieser „Haiku-Moment“, der seine ultimative Verwirklichung in Bashôs Dichtung finde, ist durch drei Elemente gekennzeichnet („wo“, „was“, „wann“). Im folgenden Gedicht ist dies beispielhaft dargestellt: (nach der Übersetzung von Yasuda)

Wo                                         Auf einen dürren Ast
Was                                       setzt sich eine einsame Krähe
Wann                                    Herbstabend nun (35)

Das Jahreszeitenwort, welches das „Wann“ repräsentiert, „ist ein ästhetisches Symbol für den Sinn der Jahreszeiten, der aus dem Einssein von Mensch und Natur hervorgeht. Seine Funktion ist es, diese Einheit zu symbolisieren.“ Nach Yasudas Ansicht vermeidet der Haiku-Dichter „Metaphern, Gleichnisse oder Personifikationen.“ „Metaphern sind für den Haiku-Dichter immer eine Einmischung. Sein Ziel ist es, die Sache wiederzugeben, auf dass diese in ihrem eigenen einzigartigen Selbst erscheint, ohne Referenz zu etwas anderem als sich selbst.“ (36) Der Versuch, die Funktion der Metapher zu leugnen, der auch in Blyths Schriften gemacht wird, übersieht, dass das Haikai, wie alle Dichtung, hochgradig metaphorisch ist: Der grundsätzliche Unterschied ist, wie wir sehen werden, dass die metaphorische Funktion eher implizit als explizit ist, und häufig in einem polysemantischen Ausdruck oder in einem Wort verschlüsselt wird.

Pauline Yu erörtert in ihrer Diskussion der chinesischen Dichtung, dass die westliche Metapher einem grundlegenden Dualismus zuneige – sie vertritt die These einer Disjunktion von zwei Bereichen – in der Regel dem Konkreten und Abstrakten oder dem Physischen und Metaphysischen. In diesem Zusammenhang tendiere Dichtung dazu, einen transzendentaleren, häufig spirituellen Bereich konkret oder physisch auszudrücken. Die Natur diene als Vehikel, um eine abstraktere, transzendentalere Welt zu verstehen, der Priorität verliehen wird. (37) Diese Art der Metapher, die im Grunde nur einen beschränkten Typus repräsentiert, erscheint selten in Bashôs Haikai, wenn überhaupt. Natur existiert als etwas Konkretes, sie erscheint in den Augen des Betrachters als Unmittelbares und wird als solches geachtet. Gleichzeitig jedoch kann Natur implizit eine semi-metaphorische Funktion besitzen, insbesondere als Projektion des inneren oder äußeren Zustandes des Dichters oder des Empfängers. Die Funktionen natürlicher Symbolik, sowohl auf wörtlicher wie auch auf bildlicher Ebene, lassen I.A. Richards bekannte Unterscheidung zwischen „Vehikel“ und „Tenor“ hinfällig erscheinen. Wie wir später sehen werden, funktioniert das Bild eines Hokku im Allgemeinen sowohl metonymisch, als Teil einer größeren Szene, als auch semi-metaphorisch, als Reflexion oder Ausdruck einer anderen Sphäre, die üblicherweise innerhalb der direkten Welt des Sprechers oder Empfängers existiert.

Harold Hendersons Introduction to Haiku, eine aktualisierte Version eines früheren Buches mit dem Titel The Bamboo Room aus den 1930er Jahren, gab der in den 1960er Jahren entstehenden nordamerikanischen Haiku-Bewegung einen wichtigen Impuls. Im Gegensatz zu Blyth und Yasuda betrachtete Henderson das Haiku nicht als spirituelle oder ästhetische Erfahrung und schwächte die Idee der Zen-Erleuchtung ab. Stattdessen lenkte er die Aufmerksamkeit auf die „Obertöne“, auf die stark suggestive Qualität guter Haiku, auf Techniken der Verdichtung und Auslassung. Er betonte die Bedeutung des Lesers, der am Prozess der Assoziation mitwirkt. Im Gegensatz zu Yasuda, der der Ansicht war, dass das Haiku nur einen Schwerpunkt haben solle, lenkte Henderson die Aufmerksamkeit auf die Relevanz des Schneidewortes. Dieses zweiteilt das Haiku, es erschafft zwei Zentren und erzeugt häufig das, was Yasuda „das Prinzip interner Gegenüberstellung“ nannte: eine implizite Gegenüberstellung, Gleichsetzung oder Kontrastierung zweier getrennter Elemente – eine Dynamik, die er als Hauptcharakteristik von Bashôs Dichtung ansah, und die sich überschneidet mit Pounds Begriff der „Superposition“. (38)

Die erste wichtige Haiku-Anthologie auf Englisch, Haiku Anthology (1974), herausgegeben von Cor van den Heuvel, lässt den tiefen Einfluss von Blyth, Yasuda und Henderson erkennen. (39) Viele der Haiku, die gewöhnlich dreizeilig dargestellt sind, fokussieren auf Augenblicke intensiver Wahrnehmung, besonders auf die sensorischen Aspekte kleiner physischer Objekte, oder auch auf einen besonderen Augenblick in der Zeit, gemeinhin bezeichnet als „Haiku-Moment“. Wie Geraldine Little, die an der Haiku Anthology mitgewirkt hat, bemerkt, „ist für mich der Reiz am Haiku seine Philosophie der Welt als Sandkorn, sein Hier und Jetzt.“ (40) Anita Virgil, eine andere Mitwirkende, schreibt: „Ich sah das Haiku als logische Erweiterung all dessen, was ich wusste und schätzte: als sparsame und essentielle Zeichnung, die den Teil und das Ganze vereint, Natur im weitesten Sinne – die Natur aller Dinge in der Welt: deren einzigartige Identität und dennoch deren Gleichheit, deren Dahinschwinden und deren ewige Beschaffenheit.“ (41) Die Mehrzahl dieser englischen Haiku ebenso wie die der Haiku-Übersetzungen aus dem Japanischen ist im Stil der Imagisten und Modernisten wie Stevens, Eliot und Williams gehalten. Diese englischen Haiku, die häufig Großbuchstaben und Standardzeichensetzung wegließen, besitzen ihren eigenen inneren Rhythmus und sind in einem knappen sparsamen Stil verfasst, der auch die Übersetzungen von Bashô beeinflusst hat, ebenso wie diejenigen dieser Studie.

Wie diese kurze Übersicht über die anglo-amerikanische Rezeption zeigt, wurde das Haiku als eine Dichtkunst des Objekts (insbesondere kleiner Gegenstände), der „Empfindung“ und des Moments verstanden. Ebenfalls gibt es eine starke Tendenz, das Haiku innerhalb eines spirituellen Kontextes zu behandeln oder aber in einer autobiografischen, persönlichen Art und Weise, insbesondere als „Haiku-Erfahrung“. Haiku in englischer Sprache übernahmen die Doktrinen der Imagisten und der frühen Dichter der Hochmoderne, aber mit wichtigen Unterschieden. T.S. Eliots Begriff der „gegenständlichen Entsprechung“, der ein Ziel der Imagisten verkörperte, war in anti-romantischer Absicht gebildet. Er betonte das Unpersönliche, unterstrich die Kunstfertigkeit und trennte den Dichter von persönlicher Erfahrung. In „Tradition and Individual Talent“ (1919) schrieb Eliot: „Dichten heißt nicht, seiner Gefühlswelt freien Lauf lassen, wohl aber: sich von seinen Gefühlen befreien; Dichtung ist nicht Ausdruck der Persönlichkeit, sondern eine Art Befreiung von der Persönlichkeit.“42 Indem sie die Einheit von Dichter und Gegenstand hervorhoben, transformierten Autoren wie Blyth und Yasuda jene „Unpersönlichkeit“, die die Imagisten betonten, in einen stark subjektiven, persönlichen Moment, der eng mit dem spirituellen Zustand des Dichters zusammenhängt.

In der Tat neigten westliche Gelehrte dazu, Bashô als autobiografischen, konfessionellen Dichter zu sehen, der Teil einer größeren literarischen und kulturellen Tradition ist, die die Begriffe „Wahrheit“, „Tatsache“ und „Aufrichtigkeit“ favorisiert. Ein westlicher Wissenschaftler formuliert in einer wichtigen Studie über den Ich-Roman (watakushi-shôsetsu): „In einer Kultur, die ‚Realität’ nur als unmittelbare Erfahrung der natürlichen Welt betrachtet, überrascht es nicht, dass Literatur eher zu einem Bericht oder einer Transkription dieser Erfahrung wird, als zu ihrer imaginativen Rekonstruktion.“ (43) Die Sichtweise der japanischen Literatur als einer Literatur, die „unmittelbare Erfahrung“ schätzt und „imaginative Rekonstruktion“ abwertet, ist, ebenso wie Shikis Begriff der Skizze (shasei), eine moderne japanische Konstruktion, die sich unter erheblichem westlichen Einfluss herausbildete und im Widerspruch zum Gros der Haikai-Poetik steht. (44)

Die moderne Rezeption der Dichtung Bashôs neigt dazu, entweder deren Objektivität oder deren Subjektivität zu betonen, gewöhnlich jeweils auf Kosten des erkannten Gegenteils. Sie ignoriert das, was ich „Haikai-Imagination“ nenne. Wie wir sehen werden, ist einer der bemerkenswerten Aspekte von Bashôs Dichtung deren scheinbar paradoxe Koexistenz unterschiedlicher Text- und Wahrnehmungsebenen: symbolisch und wortgetreu, monologisch und dialogisch, referentiell und parodierend, objektiv und subjektiv, persönlich und unpersönlich, metaphorisch und metonymisch, Abbildung und Collage. Diese wird hauptsächlich ermöglicht durch die grundlegende Haikai-Prämisse, wonach die Bedeutung des Textes relativ ist und abhängig von seinem Kontext, der Gegenstand konstanter Veränderung ist. Zum Beispiel existiert das Jahreszeitenwort (kigo), ein fundamentaler Baustein des Hokku, oft gleichzeitig auf mehreren Achsen bzw. in unterschiedlichen Kontexten: als Referenz an eine äußere Szene, als implizite Metapher oder als Erweiterung der Gemütsverfassung des Dichters, als komplexes literarisches und kulturelles Zeichen und als Gruß an den Adressaten. Die erste ist äußerst objektiv und referentiell; die zweite tendiert dazu höchst subjektiv zu sein; die dritte ist häufig besonders fiktional und intertextuell; und die vierte stellt eine performative Äußerung dar.

Ein typisches Hokku von Bashô stellt eine Naturszene vor, die ebenfalls als Reflexion der Gemütsverfassung des Dichters oder des Empfängers gelesen werden kann. Das gilt sogar, wenn das Gedicht vollkommen gegenständlich und ausschließlich der Natur gewidmet erscheint, wie das folgende:

Im Wasser verborgen –
die Zwergtaucher vom Biwa-See
am Jahresende

kakurekeri / shiwasu / no / umi / no / kaitsuburi

hidden      / Twelth-Month / ‘s  / lake / ’s  / grebe  (45)

Dieses Hokku, das Bashô gegen Ende des zwölften Monats von Genroku 3 (Januar 1691) vermutlich in Ômi dichtete, beschreibt die Zwergtaucher (kaitsuburi), kleine Vögel, die auf der Oberfläche des Biwa-Sees treiben und gelegentlich unter Wasser tauchen und „sich verbergen“ (kakurekeri), bevor sie an einer unerwarteten Stelle wieder auftauchen. Der umfassendere Kontext, der durch „Zwölfter Monat“ (shiwasu, wörtlich „Lehrer laufen umher“) – ein Jahreszeitenwort für den Winter und das Jahresende, wenn sich alle damit abhetzen, Reinezumachen und ihre finanziellen Konten auszugleichen – angedeutet wird, impliziert den Beobachter als zurückgezogen lebende Person, frei von Sorgen, jemand, der die Muße hat, in der umtriebigsten Zeit des Jahres Zwergtaucher zu beobachten. Diese Form der Haikai-Lektüre unterscheidet sich signifikant sowohl von einer imagistischen Leseweise der „gegenständlichen Entsprechung“ als auch einer amerikanischen Zen-Lesart, die das Subjekt mit dem Objekt verschmelzen lässt. Basierend auf impressionistischen Details und verschlüsselten Wörtern wie shiwasu ist der Leser gefordert, eine metonymische und kontextabhängige Vorstellung zu entwickeln, die diese Szene ausfüllt. Das Ungesagte ist ebenso wichtig wie das Gesagte. Der Betrachter oder Sprecher bleibt unerwähnt, und doch ist es dessen implizite Gegenwart, die das Gedicht erschließen lässt. Auf den ersten Blick scheint das Hokku auf eine scheinbar unbedeutende Nebensache zu fokussieren, aber im Auge des Betrachters entfaltet es sich Schritt für Schritt und erzeugt eine Spannung zwischen dem kleinen Objekt und der angedeuteten Landschaft, bzw. zwischen dem besonderen Moment und dem größeren Fluss der Zeit.

Die Möglichkeit des Haikai-Textes, rekontextualisiert, ergänzt, erweitert und verändert zu werden, diente zugleich einer Mannigfaltigkeit von Funktionen, wie das folgende Hokku zeigt, das Bashô zu Beginn des Jahres 1692 (Genroku 5) im Alter von 49 Jahren verfasste:

Ein Frühling, den keiner sieht –
Pflaumenblüten
auf der Rückseite des Spiegels

hito / mo / minu / haru / ya / kagami / no / ura / no / ume

person / also / not-see / spring / : / mirror / ‘s / back / ‘s / plum

In die Rückseite eines Spiegels, üblicherweise unbeachtet, sind Pflaumenblüten (ume) eingraviert, die abseits menschlicher Blicke bleiben. Das Hokku erfüllt eine sozio-religiöse Funktion als ein saitangin, oder Neujahrsgedicht, und feiert die Ankunft des neuen Jahres, indem es die im ersten Monat blühenden, wohl riechenden Pflaumenblüten beschreibt.

Gleichzeitig legt der biografische Kontext – Bashô ging zu dieser Zeit in Klausur und sonderte sich dabei sogar von seinen Schülern ab – eine symbolische, allegorische Leseweise nahe, in der die hinter dem Spiegel verborgenen Pflaumenblüten Bashôs Wunsch nach Einsamkeit, nach einem Rückzug von der Welt, ausdrücken.

In ihrer einfachsten Form „sagt Dichtung eine Sache und meint eine andere“. Wie der zeitgenössische Kritiker Michael Riffaterre darlegt, ist ein poetischer Text durch Umwege gekennzeichnet: durch Verschiebung (z.B. Metapher, Metonymie), Verzerrung (Mehrdeutigkeit, Übertreibung, Widerrede) und die Erschaffung eines textuellen Raums (Symmetrie, Reim). Jene gefährden die erste Lektüreebene, nämlich die der Wörter als „literarischer Darstellung der Realität“ (46). Diese Inkompatibilitäten bewirken, dass der Leser zur zweiten Ebene der Lektüre umschwenkt, wo er verschiedene Codeumwandlungen der ersten Ebene vollführt und Wörter als Teil anderer Netzwerke bzw. Zeichensysteme liest. Der Mangel an offenkundigen Merkmalen solcher Umwege im Hokku, in Kombination mit dem westlichen Begriff des „Haiku-Moments“, verleitet zeitgenössische Leser häufig dazu, bei der Lektüre von Bashôs Haikai auf der ersten Ebene zu verweilen, die die offensichtlichste und augenfälligste darstellt. Im Gegensatz zu den Danrin-Haikai, die sich am Fantastischen und Absurden erfreuten, legten die Genroku-Landschafts-(keiki)-Haiku, zu denen auch Bashôs reife Haikai zählen, Wert auf Plausibilität. Sie beschreiben die äußere Welt „wie sie ist“. Daraus resultiert die Existenz einer einflussreichen zeitgenössischen Strömung, die Bashôs Haiku lediglich auf der Ebene des Dargestellten liest. Bashôs Haikai fordern vom Leser aber nicht nur auf die zweite Ebene zu schwenken, sondern, im Widerspruch zu Riffaterres Modell, zugleich die erste Ebene aufrecht zu erhalten. Auf diese Weise wird eine zweifache Sicht erschaffen, die es dem Rezipienten erlaubt, Gewinn aus der Disjunktion bzw. der Resonanz zwischen beiden Ebenen zu ziehen.

Eine von Bashôs Neuerungen Mitte der 1680er Jahre war die Darstellung von äußerer Landschaft mit subtilen, emotionalen Konnotationen. Beispielsweise birgt, so Shikô und andere Schüler, der aus einem alten Teich aufsteigende Klang des Wassers des berühmten Frosch-Gedichtes sowohl Auge als auch Ohr eines Einsiedlers, der achtsam gegenüber winzigsten Veränderungen ist. Das suggeriert eine besondere meditative Einsamkeit, die manchmal als Sabi bezeichnet wird: Der Klang des Wassers vertieft paradoxerweise die Wahrnehmung der umliegenden Stille. Für Shikô und andere Haikai-Leser erscheint die ungezeigte und nicht beschriebene Welt des Frosch-Gedichts von großer, wenn nicht sogar von größerer Bedeutung als das sichtbare Detail. Die Aufmerksamkeit des Lesers gleitet hin und her zwischen diesen Details und den in der Gesamtszene verborgenen Optionen. Diese Spannung ist es, die dem Gedicht seine besondere Kraft gibt. Kurz gesagt, den Leser des Haikai erfreute das berühmte Frosch-Gedicht sowohl als gegenständliches, „unmittelbares“ Hokku über einen Frosch, der in einen alten Teich springt, als auch als parodierende, haikai-eske Infragestellung eines klassischen Topos, und ebenso als subjektives Gedicht, das Atmosphäre und Nuancen der Zurückgezogenheit und der Einsamkeit erkundet. Dieser Spielraum an Lesarten entwickelte sich aus der Haikai-Imagination, die das Hokku als einen Text in unaufhörlicher Bewegung versteht, der sich selbst aus verschiedenen Blickwinkeln zu erkennen gibt.

 

* Kapitel 2 aus: Traces of Dreams. Landscape, Cultural Memory, and the Poetry of Bashô; Stanford University Press, 1998. S. 30ff.

Übersetzung von Udo Wenzel mit freundlicher Genehmigung des Autors.

EPIGRAPH: Ezra Pound, Personae, S.108, Übersetzung von Udo Wenzel.

 

Anmerkungen

1 Zeitgenössische Veröffentlichungen wie z.B. Genroku hyakunin ikku (Einhundert Genroku Haikai-Dichter, von jedem ein Gedicht; 1691) und Hanami-guruma (Blütenschau-Kutsche; 1702) weisen darauf hin, dass in der Genroku-Periode nur etwa 10 Prozent der Haikai-Gemeinschaft der Bashô-Schule angehörten. Andere Gruppen veröffentlichten weit mehr als Bashô und seine Anhänger.

2 Shikô und Yaba waren direkte Schüler, aber Otsuy hatte nie mit Bashô studiert.

3 Im Laufe der Kyôhô-Epoche (1716-36) gelang es der Shibaku-Schule, die von den Revival-Dichtern abschätzig als „provinzielle Bashô-Schule“ bezeichnet wurde, ihren Einflussbereich auf das ganze Land auszudehnen. Indessen waren die großen Städte des frühen 18. Jahrhunderts dominiert von städtischen Haikai-Bewegungen, wie beispielsweise von Fukakus kechô-Stil oder von der Edoza, einer Bewegung aus Edo, repräsentiert durch die geistreichen, verspielt „stilvollen“ (share-fû ) Haikai des Sentoku (1662-1726) und Kikaku (1616-1707) und von dem metaphorischen Stil (hiyutai ) Senshûs (1670-1737). Der Begriff Edoza bezeichnete ursprünglich nur Kikakus Gruppe aus Edo, welche im Gebiet der Region Kanda bei Edo ansässig war, doch der Begriff verweist mittlerweile auf das gesamte Phänomen der tentori („Punktesammler“) Haikai-Meister aus Edo zur Zeit der Kyôhô-Epoche.

4 Die Namen der 10 Schüler weichen je nach Quellenlage ab.

5 1739 edierte und veröffentlichte Kajaku Bashô kusen (Ausgewählte Dichtung von Bashô), worin 671 von Bashôs Hokku, gruppiert nach Jahreszeiten, vorgelegt wurden, inklusive Anmerkungen und Kommentaren. Das Bashô kusen, das zum Standardwerk für spätere Leser wurde, vereinte über 560 in Hakusenshû (1698 herausgegeben von Fûkoku) gefundene Hokku mit Hokku aus anderen veröffentlichten Sammlungen.

6 Buson zenshû, 1:592.

7 Riichi ist bekannt für Oku no hosomichi sugagomosh (1778), einer der frühesten und besten vormodernen Kommentare zu Bashôs Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Das Vorwort schrieb Rankô, der auch 1776 Dohô bei der Veröffentlichung von Sanzôshi (1702 zusammengestellt) unterstützte. Dies war ein Jahr nachdem Kyôtai Kyhoraishô von Kyorai veröffentlicht hatte. 1786 gab Rankô Shô ô shôsoku shû heraus, die Briefe Bashôs. Der Höhepunkt der Revival-Periode brachte ebenfalls mehrere umfangreiche biografische Studien hervor, dazu gehören Shô ô zenden (Vollständige Biografie von Bashô, dem Ältesten; 1762) von Chikujin (gest. 1764), ein Schüler Dohôs, und später Chômus Bashô ekotobaden (Illustriertes Leben von Bashô, dem Ältesten; 1792).

8 Frühe Aufzeichnungen weisen darauf hin, dass am siebten Jahrestag von Bashôs Tod an sieben Standorten des Landes Bashô-Gedenkstätten, oder Bashô zuka, aufgestellt wurden. Am siebzigsten Jahrestag wurden weitere sieben tsuka an berühmten Tempeln Japans errichtet.

9 Tôsei war einer der frühen Haikai-Namen Bashôs.

10 Ogata, „Bashô o dô miru ka“, in: ders., Bashô hikkei, S.8.

11 Der Proselytismus der Shikô-Schule hatte den der Ji-Sekte zum Vorbild. Diese sandte Priester aus, um mit ansässigen Gruppen zu arbeiten. Im Ji-Tempel wurden jährliche Gedenkveranstaltungen für Bashôs Seele abgehalten. Shikô erbaute eine tsuka für Bashô im Sôrin-Tempel, dem Haupttempel der Ji-Sekte.

12 Masaoka Shiki, Shû, S.146-189.

13 Als ein Beispiel für Erhabenheit und Größe wird von Shiki angegeben: „Rauher Wellengang! / Weit nach Sado hinüber spannt sich / der Himmelsfluß …“ (araumi ya Sado ni yokotau amanogawa).“

14 „Bashô zôdan“, in: Masaoka Shiki, Shû , S.177.

15 In „Jojibun“ (Beschreibende Prosa), einem im Jahre 1900 (Meiji 33) verfassten Essay, schrieb Shiki: „Fürs erste bezeichne ich das Beschreiben von wirklichen Gegenständen, so wie sie sind, shajitsu. Sie können ebenfalls shasei genannt werden.“ (Shû, S.367)

16 Der Begriff shasei, der weite Verbreitung erlangte, wurde später von den so genannten japanischen Romantik-Dichtern übernommen. Dazu zählt Shimazaki Tôson, der anschließend zum Pionier des „realistischen“ (shaijitsuteki) Schreibstils wurde, wie er von der naturalistischen Schule adaptiert worden war.

17 In dem essayartigen Gedicht „Bashô-Lesung in Matsushima“ (Matsushima ni oite Bashô o yomu), erschienen in der Zeitschrift Jogaku zasshi (1892), beschreibt Tôkoku eine Reise nach Matsushima, die einer der Höhepunkte in Oku no hosomichi ist. Dort trifft er den Geist Bashôs und erkennt, dass dieser keine Dichtung über Matsushima verfasst hat, weil ihn die Schönheit der Landschaft in einem „erhabenen“ Moment vollständig aufgezehrt hat. Bashôs Geist verschmolz mit dem der Natur. Für den ausführlich über Bashô schreibenden Tôson wurde Bashôs Leben zu einem Ideal, dem er selbst nachzueifern suchte. Die symbolistischen Dichter (shijin) Kanbara Ariake (1875-1952) und Miki Rofû  (1889-1964), die zunächst von der französischen symbolistischen Dichtung beeinflusst waren, fanden in Bashô ebenfalls ein japanisches Pendant. Im Vorwort zu seiner symbolistischen Lyriksammlung Shunchôshû (1905) schrieb Kanbara Ariake, Bashô sei der „symbolistischste Dichter der japanischen Literatur“ gewesen.

18 Hirai Shôbin, „Kindai no haijintachi“.

19 Haikai manwa (Haikai Plauderei), Shinseisha, 1903.

20 Matsui Toshihiko, „Kindai hairon to Bashô“, S.279.

21 Ebd. S.282-283. Als Beispiel nennt Kyoshi das Gedicht Bashôs: „Erschöpft – / schaue nach einem Rastplatz – / hängende Wisteria“ (kutabirete yado karu koro ya fuji no hana).

22 Kaneko Tôta (geb. 1919), der aus dem Einflussbereich der Ningen tanky (Streben nach Humanität) Gruppe hervorging, wurde einer der Führer der Shakaisei (sozialer Charakter) Bewegung (um 1954) und der Zen’ei (Avantgarde) Haiku-Bewegung. Beide waren stark von westlichen Richtungen beeinflusst. In den 1960er Jahren jedoch interessierte sich eine weitere Gruppe von Haiku-Dichtern [Iida Ryûta (geb. 1920), Mori Sumio (geb. 1919), Kusama Tokihiko (geb. 1920) und andere] unter dem Einfluss von Shûson und Hakyô für eine erneute Betrachtung der Haikai-Tradition, besonders der vormodernen Begriffe wie haii (Haikai-Geist), karumi (Leichtigkeit), asobi (Spiel) und kokkei (Witz). Dabei konzentrieren sie sich in erster Linie auf Bashô.

23 Taupin, S.127.

24 Pound, „A Few Don’ts by an Imagiste“. Pound fährt fort: „Die Darstellung eines solchen Komplexes innerhalb eines Augenblicks erzeugt ein Gefühl plötzlicher Befreiung und Lösung aus zeitlichen und räumlichen Schranken; ein Gefühl jähen Wachsens, wie wir es vor großen Kunstwerken erleben.“ (im Deutschen zit. nach H. Hartung, Masken und Stimmen. Figuren moderner Lyrik, S.55f.)

25 Zitiert nach Pratt, S.22.

26 „Der einzige Weg, ein Gefühlserlebnis künstlerisch zu gestalten, besteht im Auffinden einer ‚gegenständlichen Entsprechung’; mit anderen Worten: einer Reihe von Gegenständen, einer Situation, einer Kette von Ereignissen, die Formel dieses besonderen Erlebnisses sein sollen; so daß, wenn die äußeren Tatsachen, die sinnlich wahrnehmbar sein müssen, gegeben sind, das Erlebnis unmittelbar hervorgerufen wird.“ (Eliot, „Hamlet und His Problems“. In: ders., Selected Prose, S.48, hier zit. nach T.S. Eliot, Werke 3, Essays II, S.98.)

27 Pound, „Vorticism“, S.465; hier zit. nach: Ezra Pound, motz el son – Wort und Weise, S.125f.

28 Ebenfalls 1958 wurde Nippon Gakujutsu Shinkôkais Haikai and Haiku veröffentlicht, die erste seriöse Einführung in das Haikai in englischer Sprache.

29 Blyth, History of Haiku, 1:25,28.

30 Blyth, Haiku, 1:iii.

31 Ebd., 2:vii.

32 Für Blyth ist das Haiku kein besonderes Genre, sondern stellt eine Perspektive und ein Bewusstsein dar, das vereinzelt sowohl in der gesamten englischen Literatur als auch in westlichen philosophischen Schriften, inklusive derer R.W. Emersons, auffindbar ist.

33 Hackett, Way of Haiku, S.ix.

34 Yasuda, S.24.

35 Ebd., S.41.

36 Ebd., S.49-51.

37 Yu, S.17-19.

38 Henderson, S.18.

39 Die erste Ausgabe (1974) enthält ungefähr 200 Haiku, die zweite, 1986 veröffentlicht, fügte etwa 500 Haiku und verwandte Formen hinzu.

40 van den Heuvel, S.261.

41 Ebd. S.272.

42 Eliot, „Tradition and the individual talent“. In: ders., Selected Essays, S.42-43. (im Deutschen zit. nach T.S. Eliot, Essays I, S.355).

43 Fowler, S.12.

44 Zu diesem Problem siehe Tomi Suzuki, Narrating the Self.

45 In einer Variante steht „entkommen“ (nogarekeri) statt „verborgen“ (kakurekeri).

46 Riffaterre, S.2.

 

Literatur

Blyth, Reginald H. A History of Haiku. 2 Bde. Tôkyô: Hokuseidô Press, 1963, 1964.

Blyth, Reginald H. Haiku. 4 Bde. Tôkyô: Hokuseidô Press, 1949-52.

Eliot, Thomas Stearns. Essays I. In: Werke 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967.

Eliot, Thomas Stearns. Essays II. In: Werke 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969.

Eliot, Thomas Stearns. „Hamlet and His Problems“, 1919. In: Selected Prose of T.S. Eliot, Hg. Frank Kermode, S.45-49. New York: Harcourt Brace Jovanovich, 1975.

Eliot, Thomas Stearns. Selected Essays. 3 Bde. London: Faber and Faber, 1951 (EA 1919).

Fowler, Edward. The Rhetoric of Confession. Berkeley: University of California Press, 1988.

Hackett, J.W. The Way of Haiku. Tôkyô: Japan Publications, 1969.

Hanami-guruma (Blütenschau-Kutsche). 1702. Porträts der Genroku Haikai-Dichter, einschließlich Bashôs. Von Tashi (anonym veröffentlicht). In: Genroku haikai shû, Hg. Ôuchi

Hatsuo, Sakurai Takejirô und Kira Sueo. S.377-491. Shin Nihon koten bungaku taikei 71. Iwanami shoten, 1994.

Hartung, Harald. Masken und Stimmen. Figuren moderner Lyrik. München/Wien: Hanser, 1996.

Henderson, Harold G. An Introduction to Haiku: An Anthology of Poems and Poets from Bashô to Shiki. Garden City, N.Y.: Doubleday, 1958.

Hirai Shôbin. „Kindai no haijintachi“ In Band 3 von Bashô kôza, Bashô kôza henshûbu, S.120-132. Yûseidô , 1983.

Kanbara Ariake. Shunchôshû. Meicho fukkoku zenshû. Nihon kindai bungakukan, 1968 (EA 1905).

Pound, Ezra. „A Few Don’ts by an Imagiste“. In: Poetry, (Mar. 1913).

Pound, Ezra. motz el son – Wort und Weise. Zürich, 1957.

Pound, Ezra. Personae: The Collected Shorter Poems of Ezra Pound. New York: New Directions Pub., 1926.

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Zu Haruo Shirane

 

Ersteinstellung: 15.12.2006