Neues vom Tage, Neues vom Augenblick

Gary Snyder im Gespräch mit Udo Wenzel
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Udo Wenzel: Im deutschsprachigen Raum gibt es, im Unterschied zum Haiku in Englisch, erst seit wenigen Jahren wieder Ansätze zu einem Haiku des freien Formats. Seitdem gibt es immer wieder die Diskussion: wie definiert man ein Haiku, bzw. wie unterscheidet man es von anderer Lyrik. Sie haben vor über 50 Jahren damit begonnen, Haiku zu schreiben und sich von Anfang an nicht darum gekümmert, Silben zu zählen oder auf die Anwesenheit eines Jahreszeitenworts geachtet. Wie kam es dazu?

Gary Snyder:  Ich habe meine kurzen Gedichte nie „Haiku“ genannt, außer in bestimmten seltenen Fällen, in denen ein kurzes Gedicht das traf, was ich als die wesentliche ästhetische Erfordernis eines Haiku von höchster Qualität empfand – was unter anderem bedeutet, Freiheit vom Ego. Ich glaube nicht, dass wir das Haiku in anderen Sprachen und Kulturen überhaupt „denken“ sollten. Wir sollten uns kurze oder knappe Gedichte denken. Diese können augenblicksbezogen, beobachtend, verdichtet und aussagekräftig sein, allein stehend oder nicht, oder können viele andere mögliche Eigenschaften haben, außer vielleicht Satire, Parodie, Wut und dergleichen. Der Bereich gehört im Japanischen zum „Senryû“.

Ich denke nicht, dass es notwendig oder erstrebenswert ist, 5-7-5 Silben zu zählen. Die natürliche Welt und die Jahreszeit zu reflektieren, heißt zu reflektieren, was ist. Viele moderne Haiku in Japan haben kein Kigo, kein „Jahreszeitenwort“.

Udo Wenzel: Denken Sie, das Haiku sei im Grunde auf andere Sprachen und Kulturen nicht übertragbar? Halten Sie das amerikanische oder europäische Haiku für eine „Mogelpackung“?

Gary Snyder: Wie ich zu sagen versuchte, das Haiku ist eine japanische dichterische Form. Es hat Elemente, die in der Tat in den Dichtungen anderer Sprachen und Kulturen entwickelt werden können, aber nicht durch sklavische Imitation. Um Haiku in anderen Sprachen zu erreichen, muss man das „Herz“ des Haiku erreichen, das hat zu tun mit Zen-Praxis und mit geübter Beobachtung – keinesfalls mit dem Zählen von Silben.

Udo Wenzel: Nachdem Sie 1956 die nordamerikanische Westküste und den Kreis der „Beat poets“ verlassen hatten, gingen Sie nach Japan, wo Sie in den nächsten 12 Jahren lebten, die chinesische und japanische Sprache studierten und Unterweisungen in einem Zen-Kloster erhielten. Hatten Sie dort Kontakt mit Haiku-Dichtern? Veränderte sich Ihre Sicht des Haiku, als Sie ihm im Ursprungsland begegneten?

Gary Snyder:  Ich begegnete keinen Haiku-Dichtern, mit Ausnahme von Nakagawa Soen Roshi in seinem Tempel in der Nähe des Fuji. Ich blieb dort zwei Nächte und wanderte mit ihm in die Berge. Wir sprachen nie über Dichtung. Später erfuhr ich, dass er sowohl ein hochangesehener Haiku-Dichter war als auch ein Zen-Meister. Einige der Zenmönche unten in Kyôto dachten geringschätzig über ihn, sie sagten „Wenn er ernsthaft Zen lehren würde, würde er nicht immer zu diesen Haiku-Dichtertreffen in Tôkyô gehen.“ Ich hatte noch keine feste Vorstellung vom Haiku, als ich nach Japan ging, deshalb kann ich nicht sagen, dass diese sich verändert hätte.

Udo Wenzel: Es ist bekannt, dass Sie nicht in erster Linie Haiku-Dichter sind. Aber Sie verwenden das Haiku in Prosatexten (das erinnert an die Tradition des Haibun von Bashô). Außerdem integrieren Sie es auch in längere Gedichte. Hatten Sie literarische Vorbilder für diese Technik?

Gary Snyder:  Gewiss, ich habe taffe, selbständige kurze Bildgedichte mit reichhaltiger Bedeutung in meine längeren Gedichte integriert. Ich nenne sie nicht Haiku. Es ist Teil meiner poetischen Strategie. Es ist dem Haibun geschuldet, aber auch Aspekten verschiedener oraler Traditionen, in denen Lieder in das Geschichtenerzählen verwoben werden (und diese mündlichen Aufführungen sind keine „Prosa“).

Udo Wenzel: Wie definieren Sie das Haiku?

Gary Snyder:  Ein Haiku ist ein kurzes japanisches Gedicht, das sowohl sehr einfach als auch überaus schwierig zu machen ist. Eine enorme Anzahl von Menschen im ganzen Land schreiben sie täglich. Viele stehen in der Zeitung. Sie haben eine Reihe von Regeln und Richtlinien, die nicht sklavisch befolgt werden. Es ist schwer, Haiku in ihrer Übersetzung vollauf zu schätzen, denn ein Großteil ihrer Kraft besteht in den Kniffen, die auf die Syntax verwandt wurden. Obwohl die bedeutendsten Haiku zu den vornehmsten Äußerungen der Welt gehören, spielt die riesige Anzahl von weniger bedeutenden Haiku eine wertvolle und belebende Rolle für die Kultur. Nicht-japanische Gesellschaften können von dieser Tradition lernen und Kurzgedichte schreiben, die intensiv „Neues vom Tage, Neues vom Augenblick“ aufzeichnen – ohne Ego, das ist elementar.

Udo Wenzel: Wer schreibt, wenn ein Haiku ohne Ich geschrieben wird? Würden Sie bitte erklären, was es bedeutet, ohne „Ego“ zu schreiben? Woran kann man eines erkennen? Könnten Sie uns ein Beispiel nennen?

Gary Snyder: In Hakuin Zenjis „Lied der Meditation“ gibt es die Zeile „Die wahre Natur, das ist keine Natur, jenseits jeder Doktrin.“ Dôgen Zenji sagt, „Wir studieren das Selbst, um das Selbst zu vergessen.“ Keine Natur ist wahre Natur, Nicht-Ich ist die geheimnisvolle Kraft der Schöpfung. Wie Sie solche Haiku erkennen können und welche Beispiele es gibt? Erinnern Sie sich an das großartige Haiku aus der japanischen Tradition, das Sie erstmals, als Sie noch neu auf diesem Gebiet waren, als Haiku in seinen Bann gezogen hat, Gedichte von jenen, die wir „Die Meister“ nennen.

Udo Wenzel: Das japanische Haiku ist zwar eher als Jahreszeitendichtung zu beschreiben denn als Naturdichtung, dennoch sind Natur und Landschaft immer auch zentrales Thema der Haiku-Dichtkunst gewesen. In Dharma Bums ist zu lesen, wie Sie und Ihre Freunde in den 1950er Jahren Haiku schufen, indem Sie sich diese auf Wanderungen gegenseitig zuriefen, womit Sie an orale Traditionen der Dichtung anknüpften. Sie wurden nicht niedergeschrieben. Vermutlich blieb dabei der Aspekt unberücksichtigt, dass es sich beim japanischen Haiku ursprünglich um Sprachkunstwerke handelt, an denen zum Teil lange Zeit gefeilt wurde. Welche Bedeutung messen Sie heute der Sprache für die Haiku-Dichtung bei?

Gary Snyder:  Man kann kein Lied oder Gedicht ohne Sprache ausrufen, singen, sprechen, schreiben oder sagen. Sprache hat immer Syntax. Einige Menschen haben ein größeres Talent für die Sprache als andere. Um in der Sprache gut zu werden, muss man viel zuhören.

Udo Wenzel: Für sein Haibun „Auf schmalen Pfaden ins Hinterland“ besuchte Bashô auf seiner langen Reise sogenannte utamakura (Kopfkissen-Orte), Orte, die bereits mit kultureller und literarischer  Bedeutung angereichert waren, und hat über diese auf neue, originelle Weise geschrieben. Sie beschreiben in Ihren Gedichten und in Ihrer Prosa immer wieder die Landschaften des nordamerikanischen Westens. Eines Ihrer wichtigsten Projekte ist „Berge und Flüsse ohne Ende“. Inwiefern wurden Sie dabei von Bashô beeinflusst?

Gary Snyder:  „Berge und Flüsse ohne Ende“ wurde 1996 beendet. Bashô war ein früher Einfluss für mich, aber ebenso Buson. Den größten literarischen Einfluss auf dieses Langgedicht hatte das Nô-Drama, besonders das Stück „Yamamba“.

Udo Wenzel: In Ihren Publikationen wenden Sie sich immer wieder gegen konventionelle Dichotomien, beispielsweise gegen die von Natur und Sprache / Kultur oder Natur und Zivilisation. Sie erweitern einerseits den Naturbegriff auf den Bereich des Menschlichen, andererseits ist Wildnis ein wichtiger Begriff für Sie. Welche Rolle spielen diese Begriffe in Bezug auf die Dichtkunst?

Gary Snyder:  Mein Prosa-Buch über ökologische Philosophie „Die Praxis des Wilden“ bietet ausführliche Antworten auf diese Fragen und sorgfältige Definitionen der Wörter „Natur“ und das „Wilde“ (das nicht identisch ist mit „Wildnis“). Hanfried Blume hat vor kurzem seine deutsche Übersetzung des Buches abgeschlossen, es wird im kommenden Jahr im Verlag Matthes und Seitz veröffentlicht werden. (1)

Udo Wenzel: Sie nannten sich selbst einmal einen „buddhistischen Dichter“. Wie würden Sie für sich den Zusammenhang von Religion und Dichtung beschreiben?

Gary Snyder:  Ich mag, was Zen-Meister Dôgen im 13. Jahrhundert sagte: „Wir studieren das Selbst, um das Selbst zu vergessen. Wenn man das Selbst vergisst, wird man eins mit der gesamten Erscheinungswelt.“

Udo Wenzel: Haben Sie in der letzten Zeit Gedichte geschrieben, die dem Haiku nahekommen? Wenn ja, würden Sie so freundlich sein und uns etwas davon vorstellen?

Gary Snyder:  Am besten findet man meine neuesten Kurzgedichte und „Haibun-ähnlichen“ Gedichte in meinem jüngsten Gedichtband mit dem Titel „Danger on Peaks“. Er wurde vor kurzem von Sebastian Schmidt ins Deutsche übersetzt und von der Stadtlichter Presse unter dem Titel „Gefahr auf den Gipfeln“ (Berlin 2006) veröffentlicht. (2) Das Buch enthält einen Abschnitt mit sehr kurzen Gedichten und ebenso ein ganzes Kapitel namens „Staub im Wind“, in dem ein Abschnitt mit Prosa plus Kurzgedicht ist.

Hier ein neues Kurzgedicht:

Ravens in the afternoon control-burn smoky haze
croaking          away.
Coyotes yipping in the starry early dawn.

Raben am Nachmittag kontrolliertes Feuer rauchiger Dunst
krächzen       hinweg.
Koyoten jaulen in der gestirnten Morgendämmerung.

Udo Wenzel: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Anmerkungen:
1  Ein Vorabdruck des ersten Kapitels ist in deutscher Sprache erschienen als „Lektionen der Wildnis“. In: Lettre International Nr. 75. Berlin 2006. http://www.lettre.de/archiv/75_iv.html
2 siehe Besprechung von Udo Wenzel in dieser Ausgabe

 

Ersteinstellung: 15.06.2007