in Einbeziehung eines minimalistischen Diskurses über das moderne japanische und englischsprachige Haiku
Dietmar Tauchner
Mittlerweile werden nachweislich seit rund 100 Jahren Haiku in deutscher Sprache verfasst. Das ist ein relativ kurzer Zeitraum, verglichen mit der Haiku-Historie in Japan, jedoch genügend Zeit, um einen literaturgeschichtlichen Faktor darzustellen.
Die Anfänge des deutschsprachigen Haiku bis in die 1990er Jahre hinein sind bislang gut dokumentiert, beispielsweise in Andreas Wittbrodts „Hototogisu ist keine Nachtigall“. (1) Zumindest hinsichtlich renommierter Autoren, die sich mit dem Haiku beschäftigt haben. Was aber kam danach?
Zum einen die erste Übersetzung japanischer Klassiker von Dietrich Krusche (2) im Jahre 1994, die konsequent vom Metrum des 5/7/5 abwich, aus der Erkenntnis heraus, dass das Japanische ganz anders als das Deutsche aufgebaut ist und eine Übertragung von Haiku deshalb andere Kriterien benötigt. Zum anderen die rasante Verbreitung des Internets als Medium Mitte, Ende der 1990er Jahre, die neue Studien-Quellen und Kommunikationsmöglichkeiten weltweit erschloss.
1999 rief Hans-Peter Kraus (3) die Netzseite www.haikuhaiku.de ins Leben und setzte damit wichtige Impulse für das deutschsprachige Haiku, durch Veröffentlichung von Artikeln über das Haiku und regelmäßige Haikuauswahlen und Übersetzungen moderner japanischer Haijin, beispielsweise Santôka Taneda. Die Seite wurde 2003 eingestellt. Das dezidiert als Nachfolge-Projekt verstandene Haiku heute nahm seinen Betrieb im selben Jahr auf.
Diese Ereignisse scheinen das moderne deutschsprachige Haiku (mit)begründet zu haben. Zwei Merkmale charakterisieren das frühe moderne deutschsprachige Haiku: Die Abkehr vom Silbenmuster 5/7/5 und der im Unterschied zu älteren deutschsprachigen Versuchen nicht mehr notwendige Naturbezug oder der Gebrauch eines Jahreszeitenwortes. Damit versuchte sich das deutschsprachige Haiku vielleicht zum ersten Mal von japanischen Vorbildern zu emanzipieren, sich an den Möglichkeiten und Sujets der eigenen Sprache zu erproben.
Vermutlich ist es zu früh, um ein Fazit über die ersten rund zwanzig Jahre dieses „neuen deutschsprachigen Haiku“ zu ziehen. Fakt jedoch ist, dass ein kreativer Bereich aufgetan wurde, der neue Themen gemäß dem „atarashimi“ (Bashôs Forderung nach dem Neuen) und neue formale Möglichkeiten aufkommen ließ, sodass allmählich die Frage auf den Plan tritt: Geht da noch mehr? Oder etwas weniger flapsig und präziser formuliert: Wie weit kann das Haiku formal und thematisch transformiert werden, ohne seine „Haikuheit“ zu verlieren? Hat sich bereits innerhalb des modernen und gegenwärtigen deutschsprachigen Haiku ein innovatives, avantgardistisches Haiku aufgeschwungen, um als dritte Kraft neben der traditionellen und der modernen Haiku-Auffassung aufzutreten?
In Japan kennzeichnet sich das moderne Haiku vor allem dadurch, dass es nicht nur Naturthemen, sondern auch soziale, politische, urbane, kulturelle, psychologische und philosophische Themen aufgreift, also Natur und Mensch als gleichwertige Themen der Dichtung ansieht. Dabei greifen viele „gendai haijin“ durchaus gerne auf Jahreszeitenwörter („kigo“) zurück, vor allem, um kulturhistorische Wirkungen urbar zu machen. Immerhin ist das Haikai von Anfang an intertextuell ausgelegt gewesen, das heißt: bezugnehmend auf andere Haiku oder Haijin – vornehmlich aus der Vergangenheit.
Gendai heißt: neue Perspektiven in die Haiku-Dichtung bringen, formal oder inhaltlich oder beides; heißt: zwar vom Traditionellen abzuweichen, nicht aber es zwingend zu verwerfen. Gendai versucht das Neue, das noch nicht Formulierte, auszusprechen oder das Altbekannte in neuem Licht zu sehen („honkadori“). Gendai bedeutet, um mit Gustav Mahler zu sprechen: „Das Feuer zu bewahren und zu schüren, nicht die Asche.“
Nach diesem kurzen und grundlegenden Diskurs über das japanische Gendai-Haiku bleibt die Frage nach wie vor unbeantwortet: Existiert bereits ein deutschsprachiges „Postgendai-Haiku“?
Da durch das Internet eine globale Perspektive leichter denn je zuvor möglich ist und das Haiku aufgrund seiner Kürze nahezu mühelos als internationales Medium oder Genre genutzt werden kann, greifen Entwicklungen im einen Sprachraum meist schnell auf andere Sprachräume über.
Das deutschsprachige Gegenwartshaiku wird zweifellos auch von den Entwicklungen des englischsprachigen Haiku beeinflusst. In den USA beispielsweise zeigt sich eine klare Tendenz dorthingehend, dass sich aus dem modernen Haiku bereits ein postmodernes Haiku herausschält, das manchen Vertretern des traditionellen Haiku schon entschieden zu weit geht. Ist ein Text wie der von Carolyn Hall (4):
sept-
ember
noch ein Haiku? Sind Texte wie die folgenden noch Haiku?
at seven we are replicants
um sieben sind wir replikanten
Helen Buckingham
seeing through the eyes of a mushroom
———————————————
drifting into the colour of same
schaue durch die Augen eines Pilzes
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treibe in die Farbe desselben
Brendan Slater (5)
Darauf wird die Zukunft mindestens eine Antwort geben. Tatsächlich hat sich – zumindest im englischsprachigen Haiku – eine Nische aufgetan, die sich vielleicht als haikueske Kurzdichtung bezeichnen ließe. Eine Strömung, die innerhalb des Gendai eine explizite Konzentration auf die subjektive Perzeption der Welt als Nichtnurnatur, sondern als urbannaturellen Kulturkorpus forciert.
Die Grenzen zwischen Objekt und Subjekt existieren nicht mehr, die Grenze zwischen Natur und Kultur ebenso wenig, Realität und Virtualität verschmelzen, Fantasie und Wissenschaft sind Schuhe eines Paars, Shikis „sashei“ ist passe. Ist das noch Gendai oder schon Postgendai? Vermutlich kommt eine Antwort darauf verfrüht. Wahrscheinlich kann diese Strömung als eine Dynamik innerhalb des modernen Haiku angesehen werden.
Ähnliches geschah freilich schon innerhalb des klassischen japanischen Haiku (dentô). Neben der Danrin- und der Teimon-Schule beispielsweise avancierte Bashôs Shômon-Schule, die plötzlich unzulässige Sujets in die Haikai-Dichtung brachte: Frösche und sogar pissende Pferde. Die Poetik der Shômon-Schule ist bis heute wirkmächtig geblieben und bestimmt vieles, was das Verständnis des klassischen Haiku prägt. Dennoch hat sie die Poetik der beiden anderen Schulen keineswegs zu Gänze verdrängt. In Österreich schreiben die meisten Haiku-Autoren noch nach deren Grundprinzipien, negieren – aus welchen Gründen auch immer – die Richtlinien der Bashô-Schule und jene der Folgezeit.
Wohin auch der Haiku-Weg führen mag: Er wird kein einsamer oder ausschließlicher sein. Das Haiku der Zukunft wird sich durch Pluralismus und Diversität kennzeichnen, gleichwertig traditionelle, moderne und postmoderne Haiku (oder haikueske Kurzgedichte) im Reich der vielen Möglichkeiten gelten lassen. Denn: Mutter Haiku hat viele Kinder.
(1) Andreas Wittbrodt, „Hototogisu ist keine Nachtigall“, V&R unipress, Göttingen 2005
(2) Dietrich Krusche, „Haiku – Japanische Gedichte“, dtv, München, 1994
(3) Hans-Peter Kraus, http://www.ziemlichkraus.de/haiku/
(4) Gurga / Metz, Haiku 21, Modern Haiku Press, Lincoln 2011
(5) Buckingham, Slater, Bones #2, Sommer 2013 — http://www.bonesjournal.com/
Ersteinstellung: 15.11.2013