und Haiku-Besprechung
von René Possél
Sterne
mir in den Schoß gefallen
aus alten Briefen
Elke Bonacker
aprilsturm –
er brach mir den zweig
mit den blüten
Ilse Jacobson
Schulweg
die Eiszapfen
bekommen Noten
Martin Berner
Sommerurlaub
am Teich
Wolken fischen
Silvia Kempen
Frühjahrsputz
wische den Himmel
in mein Fenster
Christof Blumentrath
bilder ohne rahmen
mutters
letzter raum
Helga Stania
sperrmülltermin –
dann das leere haus
voll mit gedanken
Birgit Schaldach-Helmlechner
neu gepolstert
der unbequeme Stuhl
meine Vaters
Eva Limbach
ihr Spiegelbild
Mutter fragt: wer ist diese
freundliche Frau
Brigitte ten Brink
Im Märzen der Bauer
dem Enkel
fast jedes Wort erklären
Martin Berner
Im März 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 330 Haiku von 63 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge. Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Sterne
mir in den Schoß gefallen
aus alten Briefen
Elke Bonacker
Das Haiku liest sich im Rhythmus der drei Zeilen wie die allmähliche Entfaltung einer Blüte – mit wechselnden, überraschenden Assoziationen und Amplifikationen.
Das erste, einzeln stehende Wort, das den Reigen eröffnet, ist „Sterne“. Es lässt an die räumlich schier unendlich weit entfernte Welt der Gestirne denken, in die wir (über die astronomischen Tatsachen hinaus) unsere Träume und Vorstellungen hinein- und hinauf-projizieren können.
Die zweite Zeile bringt das Bild eines Märchens ins Spiel: Wer denkt nicht bei den Sternen, die einem in den Schoß fallen, an das Märchen „Sterntaler“ der Gebrüder Grimm. Dem armen Waisenkind (einem Mädchen, das nacheinander sein einziges Stück Brot, seine Mütze, sein Leibchen, Röckchen, schließlich Hemdchen verschenkt) fallen am Ende in ein neues Leinenhemdchen die Sterne vom Himmel als „Stern-Taler“ in den Schoß … Es ist ein Märchen von der sich verschenkenden Liebe, die zuletzt reich beschenkt wird.
Bis dahin sind die Einzel-Assoziationen klar. Die eigentliche Aussage und damit die über-raschende Auflösung lässt sich aber erst in der 3. Zeile erkennen: „aus alten Briefen“. Da fallen beim Stöbern in alten Briefen (eigenen oder denen der Familie?) dem Dichter / der Dichterin Sterne in den Schoß. Vielleicht sind es tatsächlich kleine, ausgeschnittene Goldsterne, die noch im Licht einer Lampe blinken. Sie sind die Beigabe von Briefen aus einer anderen, zeitlich weit entfernten Welt, durch die ich heute mit einer kostbaren Botschaft beschenkt werde …
Das Haiku ist für mich reich an Rhythmus und Phantasie, reich an Märchenhaftem und Überraschung (= „Sternen“) aus der Ferne einer vergangenen Welt, von der die alten Briefe Zeugnis geben. Gerne vollziehe ich die allmähliche Entfaltung des Haiku in den drei Zeilen mit.