von René Possél
Mailbox
wieder schweigt er
sich in mein Leben
Anke Holtz
Frühstück
im Kaffee der Schatten
eines Kranichs
Christa Beau
Sommerwind –
wehend umhalst ihn
ihr langes Haar
Angelica Seithe
überm See
eine Schwalbe folgt
ihrem Schatten
Christa Beau
Heißer Tag
die Sonne nimmt ein Bad
im Regenfass
Friedrich Winzer
im See
ich schwimme
um den Mond
Christa Beau
Kindheitsmusik –
den Lattenzaun entlang
mit einem Stock
Angelica Seithe
Opa ist tot
nur noch die Uferkiesel
erzählen vom Meer
Matteo Lieber
sommerabend
der himmel trägt
das schönste kleid
Brigitte Pemberger
Urlaubsende
mein Strandtuch
auf Halbmast
Eleonore Nickolay
Im Juli 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 263 Haiku von 52 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Mailbox
wieder schweigt er
sich in mein Leben
Anke Holtz
Ein Haiku auf dem Hintergrund der heutigen Telefon- bzw. Handy-Technik. Es geht um eine „Voice-Mailbox“, auch Sprachspeicher genannt. Sie funktioniert ähnlich wie ein Anrufbeantworter; nur wird die Sprachnachricht hier über eine Zugangsnummer abgerufen.
Die Mailbox zeigt an, ob und wer angerufen und ob er eine Nachricht hinterlassen, aufgesprochen hat – oder eben auch nicht. Von dieser zweiten Möglichkeit geht das Haiku aus und gewinnt seine Brisanz:
Da hat jemand, der mit dem Schreiber / der Schreiberin des Haiku verbunden war, angerufen – und nichts gesagt. Dieses Schweigen aber spricht. Es wird mit allem gefüllt, was der oder die Angerufene sich aus der Kenntnis des Anrufers, ihrer gemeinsamen Geschichte oder auch nur der eigenen Einbildung oder Fantasie ausmalt …
So vielsagend ist das Schweigen, dass es für den Betreffenden / die Betreffende eine massive „Einmischung in das eigene Leben“ bedeutet. Nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Male („wieder“).
Das Haiku baut seine Spannung langsam auf, indem es von Zeile zu Zeile die Assoziationsmöglichkeiten, den Hallraum, erweitert. Erst in der dritten Zeile wird, mit der Vervollständigung des Satzes in der 2. Zeile, zum ungewöhnlichen, aber verständlichen Ausdruck „sich in das Leben von jemandem schweigen“ die ganze Tragweite deutlich.
Ein gekonntes („erlittenes“?!) Haiku über das, was die Sprache und ihr komplementärer Counterpart, das Schweigen, anrichten kann.