Top-Extra August 2018

von René Possél

 

Mailbox
wieder schweigt er
sich in mein Leben

Anke Holtz

 

Frühstück
im Kaffee der Schatten
eines Kranichs

Christa Beau

 

Sommerwind –
wehend umhalst ihn
ihr langes Haar

Angelica Seithe

 

überm See
eine Schwalbe folgt
ihrem Schatten

Christa Beau

 

Heißer Tag
die Sonne nimmt ein Bad
im Regenfass

Friedrich Winzer

 

im See
ich schwimme
um den Mond

Christa Beau

 

Kindheitsmusik –
den Lattenzaun entlang
mit einem Stock

Angelica Seithe

 

Opa ist tot
nur noch die Uferkiesel
erzählen vom Meer

Matteo Lieber

 

sommerabend
der himmel trägt
das schönste kleid

Brigitte Pemberger

 

Urlaubsende
mein Strandtuch
auf Halbmast

Eleonore Nickolay

 

Im Juli 2018 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 263 Haiku von 52 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Mailbox
wieder schweigt er
sich in mein Leben

Anke Holtz

Ein Haiku auf dem Hintergrund der heutigen Telefon- bzw. Handy-Technik. Es geht um eine „Voice-Mailbox“, auch Sprachspeicher genannt. Sie funktioniert ähnlich wie ein Anrufbeantworter; nur wird die Sprachnachricht hier über eine Zugangsnummer abgerufen.

Die Mailbox zeigt an, ob und wer angerufen und ob er eine Nachricht hinterlassen, aufgesprochen hat – oder eben auch nicht. Von dieser zweiten Möglichkeit geht das Haiku aus und gewinnt seine Brisanz:

Da hat jemand, der mit dem Schreiber / der Schreiberin des Haiku verbunden war, angerufen – und nichts gesagt. Dieses Schweigen aber spricht. Es wird mit allem gefüllt, was der oder die Angerufene sich aus der Kenntnis des Anrufers, ihrer gemeinsamen Geschichte oder auch nur der eigenen Einbildung oder Fantasie ausmalt …

So vielsagend ist das Schweigen, dass es für den Betreffenden / die Betreffende eine massive „Einmischung in das eigene Leben“ bedeutet. Nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Male („wieder“).

Das Haiku baut seine Spannung langsam auf, indem es von Zeile zu Zeile die Assoziationsmöglichkeiten, den Hallraum, erweitert. Erst in der dritten Zeile wird, mit der Vervollständigung des Satzes in der 2. Zeile, zum ungewöhnlichen, aber verständlichen Ausdruck „sich in das Leben von jemandem schweigen“ die ganze Tragweite deutlich.

Ein gekonntes („erlittenes“?!) Haiku über das, was die Sprache und ihr komplementärer Counterpart, das Schweigen, anrichten kann.