Top-Extra Mai 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Bestattung
der bittere Duft
gestutzter Lebensbäume

Eleonore Nickolay

 

Spielstraße
mit dem Rollstuhl durch
Himmel und Hölle

Friedrich Winzer

 

Wartezimmer
die ungesunde Farbe
des Himmels

Eleonore Nickolay

 

regentag
die tränen
des grabengels

Peter Wißmann

 

Beim Waschen des Tuchs
das ausblutende Blau
Marokkos

Marianne Kunz

 

Waldspaziergang
aus dem Astloch
Kindergeschrei

Hildegard Dohrendorf

 

Krimilesung –
auf dem Heimweg wartet
die dunkle Allee

Franz Kratochwil

 

lesend im Gras
ein Schmetterling
liest mit

Christa Beau

 

Morgensonne
die Fenster des Nachbarn
blinzeln mir zu

Anke Holtz

 

am Abend
die Schnecke geht ins Beet

Dyrk-Olaf Schreiber

 

Im April 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 312 Haiku von 69 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Bestattung
der bittere Duft
gestutzter Lebensbäume

Eleonore Nickolay

 

Das Haiku verlässt sich in seiner Wirkung auf die übertragene Bedeutung botanischer Phänomene. Hier wird sozusagen „alles signifikant“. Das Wort der ersten Zeile gibt den Kontext und damit den Bedeutungs-Schlüssel an: Es ist die Situation einer Bestattung, der Trauerfeier in einer Trauerhalle mit „immergrünen“ Thuja als Dekoration.

Dass bestimmte Sorten Thuja einen bitteren, nach Mandel riechenden Geruch absondern, ist eine erste Wahrnehmungs-Voraussetzung; dass der „Lebens-Baum“ (wie Thuja auch heißt) oft zurückgestutzt wird, die zweite. Beides mag stimmen. Ich bin kein Biologe oder Botaniker.

Indem die botanischen Phänomene mit der Bestattung zusammengebracht werden – d.h. mit dem Tod eines Menschen und der Betrachtung seiner abgeschlossenen Lebensgeschichte – entsteht aber eine neue Aussage.

Im Klartext könnte sie heißen:

Wie oft wird ein Leben in seinen Wachstums-Möglichkeiten eingeschränkt, „gestutzt“, und kann nicht zur Entfaltung kommen! Wer das bemerkt, wird den „bitteren Geschmack oder Duft“ der Thuja konkret auf die Tragik des „un-gelebten Lebens“ beziehen, das mit dem Tod aufhört, dem Ende aller menschlichen Möglichkeiten.

Wie gesagt: Eine botanisch verschlüsselte Aussage und eher pessimistisch.

Aber erkennbar und alles in allem ein veritables (und gelungenes!) Haiku.