Top-Extra Dezember 2019

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

auf der Staffelei
immer wieder korrigiert sie
Vaters Lächeln

Klemens Antusch

 

Apfelbaum
regenschwarz – als trüge er
den diesigen Tag

Angelica Seithe

 

Hinterhof
der graue Himmel
meiner

Anke Holtz

 

der erste Schnee –
enger zusammengerückt
die Häuser im Dorf

Gabi Buschmann

 

das alte dach
neu eingedeckt
mit herbstlaub

Tobias Tiefensee

 

einödhof –
zum pflücken nah
die sterne …

Ruth Guggenmos-Walter

 

vom Strand zurück
sein Eimerchen
voll mit Sonne

Claudia Brefeld

 

kurpark
die sonnenuhr heute
ausser betrieb

Tobias Tiefensee

 

Landkarte
Die Dehnungsstreifen
auf meiner Haut

Deborah Karl-Brandt

 

totensonntag –
auf dem verwilderten grab
brennt eine kerze

Jörg Schaffelhofer

 

Im November 2019 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 361 Haiku von 70 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

auf der Staffelei
immer wieder korrigiert sie
Vaters Lächeln

Klemens Antusch

Zunächst eine Frage: Hieße es nicht richtig: „an der Staffelei“? Ausgangssituation ist zwar, dass die Malerin an einem Bild arbeitet, das „auf der Staffelei“ steht; aber geschieht ihr Malen nicht „an …“?!

Die Situation ist gut nachvollziehbar: Da steht ein Bild auf der Staffelei, das korrigiert wird – und zwar „immer wieder“. Korrektur heißt hier, ein schwieriges Bildmotiv oder ein anspruchsvolles Detail ist noch nicht „richtig“ oder zufriedenstellend gelungen und muss verbessert werden.

Was Motiv und Schwierigkeiten beim malerischen Erfassen sind, erfährt man in der 3. Zeile: „Vaters Lächeln“. Nun versteht man: das Bild ist schwierig aus einem vermutlich persönlichen Grund: Die Malerin malt den eigenen Vater! Von unseren Eltern können wir am wenigsten objektiv reden oder sie darstellen, z.B. malerisch – unmöglich, den Boden aufzuheben, auf dem wir stehen … Die Beziehung zum eigenen Vater ist in der Regel eine der längsten unseres Lebens (gleich nach der Mutter!). Sie mag gewesen sein, wie sie war – sie ist geprägt durch Kind-sein und gemeinsame Geschichte. Sie ist etwas Besonderes; es schwingt Ungesagtes und Unaufgearbeitetes, Unvollendetes darin mit …

Vielleicht ist das Lächeln des Vaters ungewöhnlich und typisch gewesen. Den richtigen Ausdruck malerisch zu treffen, ist schon für einen Maler schwer genug, der eine Person nicht näher kennt; noch schwerer für die Tochter, die ihren Vater malen will. Kein Wunder, dass das Lächeln des eigenen Vaters zu malen zu immer neuen Korrekturen veranlasst … Es ist leichter, ein offenes (gelungenes!) Haiku darüber zu schreiben.