Top-Extra November 2020

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Herbstspaziergang –
auch mein Schatten
schweigt

Angelica Seithe

 

die buntheit des laubs
fast vergesse ich wie schwer
abschied ist

Birgit Schaldach-Helmlechner

 

trüber Oktober
in meinem Quittengelee
Sonnenstrahlen

Helga Schulz Blank

 

durchs wolkenloch
auge in auge
mit dem mond

Michaela Kiock 

 

Sommerzeitende
Eine Stunde länger
sein Schnarchen

Birgit Zeller

 

Schweigen
wir rascheln uns
durch die Herbstallee

Anke Holtz

 

im Rollstuhl
auf Augenhöhe
mit der Dogge

Friedrich Winzer

 

Wolkenzug
ein Hund mutiert
zum Krokodil

Friedrich Winzer

 

Kinderspielplatz
mit Masken die Guten
und die Bösen

Anke Holtz

 

Nebelmorgen –
sie lüftet die Brillengläser
über der Maske

Angelica Seithe

 

Im Oktober 2020 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 440 Haiku von 85 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Herbstspaziergang –
auch mein Schatten
schweigt

Angelica Seithe

 

Manchmal werden Phänomene durch eine verfremdete, surreale Darstellung erst richtig bewusst. So ist das Gemälde von Salvador Dalí (1904-1989) mit den weichen, zerschmelzenden Uhren geradezu ein Symbol für das Vergehen der Zeit geworden.

Ein Herbstspaziergang in der Sonne hat etwas Dialektisches an sich: Der Herbst mit seinen Begleiterscheinungen wie bunten Blättern etc. ist einerseits ein Hinweis auf das Sterben der Natur und die Vergänglichkeit alles Lebens. Andererseits ist gerade der Rausch der Farben im Herbst auch ein Zeichen letzter Vollendung und Fülle des Lebens …

Der Herbstspaziergänger dieses Haiku sieht in der zweiten Zeile auf den eigenen Schatten, den die Sonne von ihm wirft.

Bis dahin bewegt sich das Haiku noch im Rahmen des Normalen, Sichtbaren.

Erst die dritte Zeile (haiku-like!) bringt den surrealen Touch („Ton“) ins Gedicht. Natürlich „schweigt auch mein Schatten“ beim Spaziergang, wenn ich selber schweige. Das ist „real“. Aber die „surreale Verdoppelung“ des Schweigens von Spaziergänger und Schatten verfremdet das Schweigen auf einmal – und verstärkt, betont es zugleich.

Dass ein Spaziergang im Herbst uns schweigen und nachdenklich werden lässt über die Dialektik von Sterben und Leben, kann man auf vielerlei Weise sagen. Hier wird es sehr eindrücklich „surreal“, im Bild vom „schweigenden Schatten“ in einem Haiku gesagt.