und Haiku-Besprechung
von René Possél
Dieser Moment dem Luchs Gegenüber
Iwa Antonow
am Sterbebett
wie schwer es ist das Atmen
zu verlernen
Sylvia Hartmann
Corona
vor dem Schminkspiegel
nur Eyeliner
Friedrich Winzer
Trauerhaus
die Katze am Fenster
wartet noch immer
Eleonore Nickolay
Osterlachen
nach der zweiten
Impfung.
Christiane Freimann
Mairegen –
die Magnolie verschüttet
ihre Schönheit
Angelica Seithe
Altbauwohnung
lerne die Sprache
der Bodendielen
Anke Holtz
Demente Freundin
ihr lachen
so befremdend
Lidwina Bilgerig
Kornblume ein Gebet in blau
Adrian Bouter
FKK- Strand
endlich ohne
Maske
Eleonore Nickolay
Im Mai 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 357 Haiku von 74 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Dieser Moment dem Luchs Gegenüber
Iwa Antonow
Ein einzeiliges Haiku! Ich will nicht in die Diskussion einsteigen, wieweit Ein-Zeiligkeit beim sonst dreizeiligen Haiku berechtigt ist (siehe dazu vor allem K.-D. Wirth, Grundkomponenten des Haiku. Tradition und Rezeption. https://haiku.de/wp-content/uploads/2013/12/111-Wirth-Grundkomponenten-des-Haiku.pdf) Auch um Haiku in der sogen. „Monostich-Form“ (siehe entsprechenden Artikel in Wikipedia) geht es nicht. Weshalb ich, wie hier, ein einzeiliges Haiku verstehe und gut finde, hat allein mit der inhaltlichen Angemessenheit der Form zu tun.
Das Haiku setzt unmittelbar ein mit der ungewöhnlichen und unerwarteten Begegnung mit einem Tier, dem Luchs. Das Gegenüber zu einem solchen wilden Tier, von einem Augenblick zum anderen, seine im Wortsinne atemberaubende Gegenwart, kann nicht besser dargestellt werden als durch das plötzliche Hineinziehen des Lesers oder Hörers in diese Situation, wie sie der Autor/die Autorin erlebt hat. Nichts wird gesagt, wie es dazu kam, nichts, wo man denn heutzutage einem Luchs offenbar so nah kommen kann, ohne dass er einen schon gehört hätte und gar nicht erst gegenübergetreten wäre. Und auch nichts, ob sich dies vielleicht am Gitter eines Zoos abgespielt hat …
Es ist, als bilde just die eine Zeile das unmittelbare Gegenübertreten fast brutal nach – wie ein Sprung ins Zielgebiet. Und weil sich die Gefühle und Eindrücke bei dieser tierischen Begegnung kaum angemessen beschreiben lassen, genügt für die eigene Vorstellung der offenste aller Hinweise: „dieser Moment“. Alles andere kann und darf und soll sich der Leser/Hörer selber ausdenken. Es ist der größtmögliche Freiraum im Nachhall, zur Amplifikation des Haiku: Erstarren, Erschrecken, Angst, Faszination, Überwältigung, was auch immer …
Man darf sich am Ende gern vorstellen, wie man selber eine solche Begegnung mit einem Luchs (in freier Wildbahn) in ein Haiku gefasst hätte. Wenn man das ernsthaft versucht, wird einen die Plötzlichkeit durch die auf nur eine Zeile reduzierte Gestaltung des Autors/der Autorin überzeugen. Es genügt eben, für das ohnehin kürzeste Gedicht der Weltliteratur, manchmal eine einzige Zeile.