Top-Extra August 2021

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

am Strand
die Wellen wechseln
die Sprache

Anke Holtz

 

Kondolenzbesuch
der Witwer kocht
ihre Lieblingssuppe

Ruth Karoline Mieger

 

nach dem langen sommerregen –
das aufatmen
des schilfs …

Ruth Guggenmos-Walter

 

Sommerhitze
Die Tage mit dir
verschwimmen

Deborah Karl-Brandt

 

Landregen
immer wieder liest sie
das Wetter von gestern

Martin Berner

 

auf der Autobahn
fallen sie mir ein
die passenden Worte

Ralf Bröker

 

auf einem Felsen
um die Welt segeln –
Landkartenflechten

Gérard Krebs

 

in der neuen Wohnung
zum ersten Mal
der Mond

Anke Holtz

 

Morgennachrichten
der Waffenstillstand
und mein weichgekochtes Ei

Maya Daneva

 

Vorsorge –
den Sommer eingefangen
im Aufgesetzten.

Reinhard Dellbrügge

 

Im Juli 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 374 Haiku von 79 Autoren ein. René Possél wählte hieraus ohne Kenntnis der Autorennamen 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

am Strand
die Wellen wechseln
die Sprache

Anke Holtz

Ein Sommer-Haiku. Spielort: „am Strand“. Die erste Zeile beschwört die Jahreszeit und zugleich die Urlaubssituation in diesen zwei Worten. „die Wellen wechseln“ ist eine Beobachtung mit einer beiläufigen Alliteration. Die Worte lassen schließen, dass der Dichter/die Dichterin an einem Strand sitzt und schon längere Zeit auf die Wellen des Meeres schaut und etwas wahrnimmt. Das verstärkt die anfängliche Urlaubsvermutung. Wann und wo käme man sonst auf die Idee, einfach dazusitzen und dem Spiel der Wellen zuzusehen?!

Was aber könnten die Wellen „wechseln“? Klang, Farbe, Frequenz? Die Weiterführung in der 3. Zeile ist eine Überraschung. Man könnte sich vorstellen, dass es sachlich und feststellend hieße: Die Wellen wechseln die (Laut-) Stärke oder die Kammhöhe oder die Frequenz und Farbe. Nein! Das Geräusch der Wellen, das wechselt, wird hier poetisch als „die Sprache der Wellen“ bezeichnet. Der oder die da sitzt versucht, dem Meer und seiner Sprache der Wellen genau zuzuhören. Wie spricht das Meer? Was versteht er/sie? Nun beginnt die Offenheit für einen Nachklang, den der Leser/Hörer selber bestimmt: Wie wechselt die Sprache des Meeres: von sanft zu heftig oder umgekehrt? Wird sie lauter oder leiser, bedrohlich stark oder eher flüsternd, fremder? Was sagt diese Sprache dem Hörenden, was löst es aus – an Gedanken, Erinnerungen an andere Gespräche, Dialoge vielleicht? Zu welcher Erkenntnis oder Antwort veranlasst es? Oder reicht das Zuhören …?

Ein schönes sommerliches Haiku, das in einfachster poetischer Weise einen meditativen Urlaubsmoment evoziert und den Leser/Hörer einlädt, wie der Dichter/die Dichterin am Meer die „Sprache der Natur“ zu lernen.