Top-Extra Januar 2022

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

beim Schreiben
ich achte auf den Klang
der Einkaufsliste

Ingrid Meinerts

 

auf ein neues
die alten fußstapfen
sind weggetaut

Hans Egerer

 

Bumerang –
mein weggeworfener
Wunsch

Angelica Seithe

 

der erste Tag im Jahr
die Katzenspuren führen
in die Vergangenheit

Cezar-Florin Ciobîcă

 

erster fastentag
das satte leuchten
des abendrots

Michaela Kiock

 

Heiligabend
nur Omas alter Engel
lächelt

Eleonore Nickolay

 

Im Wald.
Hinter meinem Rücken flüstern
die Bäume.

Ludmilla Pettke

 

wieder solo
vermisse ihre Lieder
aus der Wanne

Pitt Büerken

 

zweites Date
an meiner Brust vibriert
ihr Smartphone

Friedrich Winzer

 

einparken
ich entschuldige mich für die Schramme
beim Baum

Ruth Karoline Mieger

 

Im Dezember 2021 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 389 Haiku von 74 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

beim Schreiben
ich achte auf den Klang
der Einkaufsliste

Ingrid Meinerts

Mit jeder Zeile dieses Haiku steigt beim Leser die Irritation:
Erst geht es um das Schreiben, dann um das Achten auf den Klang (wovon?), schließlich um den Klang der Einkaufsliste, die demnach laut gelesen wird…

Was das zu bedeuten hat, erschließt sich erst nach dem Lesen des ganzen Haiku. Es bleibt die Irritation. Ich gehe zum Verstehen mit dem Blick auf das Ganze zunächst Zeile für Zeile vor.

Was wir nicht alles schreiben?!
Auch das Schreiben einer Einkaufsliste gehört zu den üblichen Schreibereien. Normalerweise ist das nicht der Rede wert oder gar des lauten Rezitierens.

Mit der Einkaufsliste liegt eine Aufzählung von Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs geschrieben vor uns. Wer käme nun auf den Gedanken, diese Liste einmal nicht nach ihrem Gebrauchswert oder nach der Vollständigkeit zu betrachten, sondern daraufhin, wie die einzelnen Wörter dieser Liste klingen?

Wer die Seltsamkeit und Anmutung des im Haiku indirekt genannten Vorgangs verstehen will, sollte tatsächlich mal eine x-beliebige Einkaufsliste laut lesen …

Es kann, aus dem Kontext gerissen, eine Erfahrung lautlicher Exotik werden, eine Art Fremd-werdung dessen, was uns ansonsten nah und vertraut erscheint, das wir aber von seiner rein ästhetischen Klang-Gestalt nicht wahrnehmen …

Darin besteht für mich der Reiz dieses ungewöhnlichen Haiku.
Es bringt einen ungewohnten „Klang“, gewissermaßen Musik aus unserm und in unsern Alltag.
Es bringt das Schreiben des Alltäglichen zum Klingen und macht seine sonst verborgene musikalische Qualität deutlich. Ziemlich verrückt – oder Poesie?!

Die Amerikanerin Anne Herbert dachte sich 1982 in Kalifornien die ungewöhnlichen Empfehlung aus: „Praktiziere zufällige Akte von Freundlichkeit und sinnlose Akte von Schönheit!“ That’s it.

 

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