und Haiku-Besprechung
von René Possél
Im Badezimmer
ein kleines Spinnennetz vor
dem Parfümflakon.
Moritz Wulf Lange
Pflaumendämmerung –
der alte Bauer erntet
mit den Augen
Angelica Seithe
waldlicht
bis in den traum
der duft von borke
Michaela Kiock
verlassenes Fischerhaus
das Fenster zum Meer
weit offen
Eva Limbach
Uhrenumstellung
ich erwache
in einer anderen Zeit
Anke Holtz
sonnenaufgang
sie trägt ihr gedicht
dem raben vor
Michaela Kiock
Schatten auf der Sonnenuhr
wie sehr ich wünsche
du schriebest mir
Ralf Bröker
Krähen
zerflattern die
graue Angst
Angelica Seithe
geschlossene lider
ich lausche
mamas lächeln …
Michaela Kiock
der Fluss
weint in die Ebene –
stiller Abend
Angelica Seithe
Im Oktober 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 480 Haiku von 81 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Im Badezimmer
ein kleines Spinnennetz vor
dem Parfümflakon.
Moritz Wulf Lange
Ein einfaches, aber vielsagendes Haiku. Das Eröffnungsbild nennt als Ort des Geschehens: „im Badezimmer“. Was kann in einem Badezimmer schon Poetisches passieren …?!
„Ein kleines Spinnennetz“ fährt dieses Haiku fort. Das kann passieren im Badezimmer – wenn man kein sehr ordentlicher Hausmensch ist oder alleinstehend oder … Für „Spinnereien“ mag es viele menschliche Gründe geben.
Die Präposition in der zweiten Zeile baut Spannung auf: „vor“! (Ich könnte mir dieses „vor“ auch in der dritten Zeile vorstellen). Vor was hat nun die Spinne mit der Zeit ihr kleines Netz gesponnen? „vor/dem Parfümflakon“ ist die Antwort der (zweiten und) dritten Zeile.
An diesem Punkt erlaube ich mir, als Haiku-Autorin eine Frau zu vermuten, sofern das Haiku auf einer eigenen Erfahrung beruht. Einen Parfümflakon würde man am ehesten einer Frau zuordnen. Ich hoffe, dass ich damit kein anderes Geschlecht brüskiere – „politically correct“?
Interessanter ist tatsächlich, was der „versponnene Flakon“ im Nachhall uns sagen oder besser fragen kann: Hat die Frau, der er gehört, länger keine Gelegenheit mehr gehabt, „Parfüm aufzulegen“: auszugehen, sich olfaktorisch schön zu machen? War es Einsamkeit, Vernachlässigung – eigene, durch andere? Oder ist das Ganze gar nicht so dramatisch? Gab es einfach für sie keine Gelegenheit, ein edles Parfüm (Flakon!) zu gebrauchen – und gab sie damit der Spinne Gelegenheit, ungestört ihr Netz zu spinnen, ohne dass die oben genannten Gründe dafür zutreffen müssten?
Jetzt hat die Frau auf einmal das Spinnennetz bemerkt – was heißt das? Welche Situation ist eingetreten, dass sie den Parfümflakon brauchte – eine Einladung, ein schöner Abend, die Aussicht auf eine Begegnung? I hope so. Ein einfaches, aber vielfragendes Haiku, nicht wahr?