und Haiku-Besprechung
von René Possél
freundlicher Nachbar –
wir teilen uns
eine Amsel
Angelica Seithe
Kellerregal
in Einmachgläsern ruht
der Sommer
Christa Beau
Museum
am Fenster das Kunstwerk
einer Spinne
Friedrich Winzer
am meer
der himmel
überwiegt
Tobias Tiefensee
Klassentreffen
mittlerweile reicht
ein Tisch
Friedrich Winzer
verdrehter Tag
als säße der erste Knopf
im falschen Loch
Lisa F. Oesterheld
Zu viele Rechnungen
der Kühlschrankmagnet
verliert seinen Halt
Dieter Gebell
Rentenbeginn
nach dem Frühstück
wieder hinlegen
Marie-Luise Schulze Frenking
Am Muttertag.
Für die demente Mama
ein Vergissmeinnicht.
Thees Carstens
Blick
in die Schlucht – meine Gedanken
stürzen ab
Marita Bagdahn
Im Mai 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 371 Kurzgedichte von 83 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
freundlicher Nachbar –
wir teilen uns
eine Amsel
Angelica Seithe
Ein Haiku soll einfach sein. Das ist sein Grundprinzip. Was nicht hindert: Manchmal ist ein einfach erscheinendes Haiku komplexer als man denkt.
Dieses Haiku kommt zunächst einfach und verständlich daher. Es verrät in der ersten Zeile, dass es um einen freundlichen Nachbarn geht. Worin besteht dessen Freundlichkeit? Die zweite und dritte Zeile verraten es: Man teilt sich etwas – „eine Amsel“. Das war es schon. War es das schon?
Was aber bedeutet das? Wie kann man eine Amsel „teilen“?
Im harmlosen „teilen“ ist der entscheidende Hinweis enthalten. Da bemerken zwei Nachbarn eine Amsel in ihren Gärten und beschäftigen sich mit dieser bekannten heimischen Drosselart.
Man kann z.B. das schwarze Gefieder und den orangenen Schnabel und den Ring um die Augen wahrnehmen (und weiß: ein Männchen!). Man kann sich auch an dem längeren Gesang dieses Vogels erfreuen und seinen typischen, scharfen Warnungen vor Katzen und Elstern.
Dies alles setzt voraus, dass man den Vogel beobachtet und sich darüber mit dem Nachbarn austauscht. Erst die Kommunikation über den Vogel, die Tatsache, dass beide ihn beobachten und sich über ihn unterhalten – sie bringt die Erfahrung, dass der andere freundlich, sympathisch ist.
Die Amsel ist also der Katalysator für das Kennenlernen des Nachbarn – und damit für die Erfahrung, dass der ein freundlicher, naturliebender Mensch ist. „Wir teilen uns eine Amsel“ – ist ein ungewöhnlicher Ausdruck dafür, dass zwei Menschen über eine Amsel sich mitzuteilen beginnen, dass sie ihre Beobachtungen teilen und sich so kennen- und schätzen lernen. So einfach ist das und doch auch komplex – wie das gelungene Haiku.