und Haiku-Besprechung
von René Possél
Frühlingsmorgen –
die Lerche macht
den Himmel höher
Angelica Seithe
ohne dich
ein Tag
nur ein Tag
Jutta Petzold
Sommerspur
Im Apfel
Der Raupengang
Iris Ziesemer
Origami
mein Enkel faltet
ein Nichts
Friedrich Winzer
der Garten so still
die Kinder haben
die tote Amsel entdeckt
Barbara Tischow
herangeweht
die schönheit
einer herbstblume
Michaela Kiock
Herbstlicher Morgen
niemand geht meinen Weg
Marianne Kunz
Kolumbarium –
zwischen all den anderen
dein Name
Gabi Buschmann
mit dem streunenden hund
warten auf
den bus nach hause
Michaela Kiock
Sommerabend –
der alte Dichter liest
aus seinem Leben
Angelica Seithe
Im August 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 352 Kurzgedichte von 70 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Frühlingsmorgen –
die Lerche macht
den Himmel höher
Angelica Seithe
Wir schreiben zurzeit September. Dies ist ein Haiku, das eine andere Jahreszeit heraufbeschwört: „Frühlingsmorgen“. Die Lerche „macht“ erst den Lenz, könnte man nach der zweiten Zeile die Fortsetzung vermuten.
Die dritte Zeile des Haiku bringt einen überraschend anderen Gedanken: „die Lerche macht / den Himmel höher“. Was heißt das? Es ist nicht ohne weiteres verständlich.
Der Himmel ist hoch. Das scheint eine Selbstverständlichkeit. Aber ohne einen Maßstab wird die unermessliche Höhe nicht merkbar. Erst das Kleine „macht“ das Große sichtbar. So zeigt die Kleinheit der Schwalbe, wie groß und weit, wieviel höher der Himmel ist als dies kleine Lebewesen. Der Kontrast, der Gegensatz bringt die Erkenntnis.
So, wie ein verlassenes Dorf erst dann richtig deutlich wird, wenn zwischen toten Häusern eine lebendige Katze herumspaziert. Im Theater heißt es, man müsse eine Tragödie wie eine Komödie spielen – und umgekehrt. Auf dem Hintergrund des Dunklen wird das Helle klarer erkennbar – und vice versa.
Das unprätentiöse Haiku vermittelt diese Erfahrungsweisheit. Und hat eine Gefühls-Konnotation von befreiender himmlischer Höhe über uns, die wir vielleicht an einem Frühlingsmorgen verspüren …