Top-Extra September 2023

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Frühlingsmorgen –
die Lerche macht
den Himmel höher

Angelica Seithe

 

ohne dich
ein Tag
nur ein Tag

Jutta Petzold

 

Sommerspur
Im Apfel
Der Raupengang

Iris Ziesemer

 

Origami
mein Enkel faltet
ein Nichts

Friedrich Winzer

 

der Garten so still
die Kinder haben
die tote Amsel entdeckt

Barbara Tischow

 

herangeweht
die schönheit
einer herbstblume

Michaela Kiock

 

Herbstlicher Morgen
niemand geht meinen Weg

Marianne Kunz

 

Kolumbarium –
zwischen all den anderen
dein Name

Gabi Buschmann

 

mit dem streunenden hund
warten auf
den bus nach hause

Michaela Kiock

 

Sommerabend –
der alte Dichter liest
aus seinem Leben

Angelica Seithe

 

Im August 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 352 Kurzgedichte von 70 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Frühlingsmorgen –
die Lerche macht
den Himmel höher

Angelica Seithe

 

Wir schreiben zurzeit September. Dies ist ein Haiku, das eine andere Jahreszeit heraufbeschwört: „Frühlingsmorgen“. Die Lerche „macht“ erst den Lenz, könnte man nach der zweiten Zeile die Fortsetzung vermuten.

Die dritte Zeile des Haiku bringt einen überraschend anderen Gedanken: „die Lerche macht / den Himmel höher“. Was heißt das? Es ist nicht ohne weiteres verständlich.

Der Himmel ist hoch. Das scheint eine Selbstverständlichkeit. Aber ohne einen Maßstab wird die unermessliche Höhe nicht merkbar. Erst das Kleine „macht“ das Große sichtbar. So zeigt die Kleinheit der Schwalbe, wie groß und weit, wieviel höher der Himmel ist als dies kleine Lebewesen. Der Kontrast, der Gegensatz bringt die Erkenntnis.

So, wie ein verlassenes Dorf erst dann richtig deutlich wird, wenn zwischen toten Häusern eine lebendige Katze herumspaziert. Im Theater heißt es, man müsse eine Tragödie wie eine Komödie spielen – und umgekehrt. Auf dem Hintergrund des Dunklen wird das Helle klarer erkennbar – und vice versa.

Das unprätentiöse Haiku vermittelt diese Erfahrungsweisheit. Und hat eine Gefühls-Konnotation von befreiender himmlischer Höhe über uns, die wir vielleicht an einem Frühlingsmorgen verspüren …

 

Zur Monatsausgabe