und Haiku-Besprechung
von René Possél
mein Schulatlas
die Welt
von vorgestern
Pitt Büerken
soldatengrab –
ab morgen bin ich ein jahr
älter als du warst
Alexander Groth
er verlässt das Haus
mein alter Nachbar
für immer
Frank Sauer
tango
was wir uns noch
zu sagen haben
Michaela Kiock
Gartenarbeiter
unter Beaufsichtigung
eines Rotkehlchens
Wolfgang Rödig
Gassirunde
mein Hund liest ausgiebig
die Nachtausgabe
Claudia v. Spies
Omas Garten
ich rieche mich zurück
in die Kindheit
Friedrich Winzer
verloren
die Stille
im leeren Stadion
Dyrk-Olaf Schreiber
vor den Giraffen
die Kleine macht
den Hals lang
Marie-Luise Schulze Frenking
nächste Weide
das Trippeln der Schafe
von Gebell umrundet
Wolfgang Hölz
Im September 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 337 Kurzgedichte von 67 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
mein Schulatlas
die Welt
von vorgestern
Pitt Büerken
Nie war mehr von Zeitenwende, Epochenwechsel und Entwicklungs-Beschleunigung die Rede wie in den letzten Jahren: Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimawandel u.a. haben die Welt grundlegend verändert.
Was im Großen behauptet und festgestellt wird, kann man im Kleinen auch durch einen Blick in die Karten seines alten Schulatlas‘ lernen. Dies ist der Ausgangspunkt und die (nicht überraschende, aber ganz eigene) Botschaft dieses Haiku.
„mein Schulatlas“ – die erste Zeile des Haiku wird im Leser/Hörer schon verschiedene persönliche Assoziationen und Reminiszenzen hervorrufen. Ob manche wie ich an ihren alten braunen Diercke Schul-Weltatlas denken?! Der zeigte zwar schon immer eine Welt, die es nicht mehr gab. Zu schnell waren und sind die Veränderungen in Politik, Geographie und Gesellschaft zu allen Zeiten, als dass er jemals hätte aktuell sein können …
Die allgemeine Erkenntnis, dass die Welt in unserm alten Schulatlas immer schon veraltet war, wird hier noch einmal zugespitzt durch die Aussage:
Die Welt, die wir darin vorfinden, ist nicht nur „von gestern“, sondern sogar „von vorgestern“! Was könnte besser die Rasanz und Brisanz der Entwicklung und Wandlung ausdrücken als dieser Ausdruck?!
Durch den Blick in den alten Schulatlas kann das Ausmaß der Zeitenwenden und Weltveränderungen von jedem leicht nachvollzogen werden. Sechs Worte nur braucht dieses Haiku dafür. Gekonnt kurz für ein langes Nachdenken.