Top-Extra Dezember 2023

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

SMS in der Kirche
was würde ich
Gott schreiben?

Eleonore Nickolay

 

gesammelt in einem reiher – morgenstille

Helga Stania

 

Totensonntag –
noch immer bügelt sie
seine Taschentücher

Marita Bagdahn

 

studienbeginn –
über der neuen stadt
der alte mond

Alexander Groth

 

schon siebzig
wie gut er noch aussieht
der Kirschbaum

Wolfgang Hölz

 

reihenhaussiedlung
neben der witwe zieht
kinderlachen ein

Tobias Tiefensee

 

Die Stille
nach dem Streit
so laut

Nicole Kullick

 

Leichenschmaus
beim Nachtisch
erstes Lachen

Wolfgang Hölz

 

Kein Anschluss
in der Telefonzelle
stehen Bücher

Dieter Gebell

 

die alten Menschen
schweigend
vor der Kirche

Elena Abendroth

 

Im November 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 429 Kurzgedichte von 79 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

SMS in der Kirche
was würde ich
Gott schreiben?

Eleonore Nickolay

Die Beobachtung, dass jemand in der Kirche eine SMS schreibt, hat dies Haiku vielleicht hervorgerufen. Die Kirche ist gewöhnlich der Ort, an dem Menschen mit Gott sprechen, kommunizieren. Normaler Weise geschieht dies aber mündlich, im Gebet, und nicht im Schreiben; auch nicht in einer begrenzten Form …

SMS = „short message service“. Das ist ein bekannter Kurznachrichtendienst per Handy seit Ende der 80-er. Er überträgt Nachrichten und ist begrenzt auf 160 Zeichen. Das macht die Botschaften gedrängt und oft lakonisch.

Das Haiku bringt SMS und die Kommunikation mit Gott zusammen mit der Frage: Was würde ich Gott schreiben, wenn ich nur 160 Zeichen zur Verfügung hätte? Der Zwang dieser Form führt zu der Überlegung, Frage, was mir so wichtig ist, dass ich es Gott schreiben würde.

Es ist eine Haiku-like Frage. Auch das Haiku zwingt bekanntlich zur Kürze. Damit ist die Frage ebenso originell wie nachdenklich machend. Unter anderem darüber, wohin ich die SMS schicke…

Man könnte „SMS an Gott“ auch noch anders betrachten – wie Max Frisch mit einer der Fragen seines Fragebogens: „Gesetzt den Fall, Sie glauben an einen Gott: Kennen Sie Anzeichen dafür, dass er Humor hat?

Würde ich Gott eine SMS schreiben? Wenn ja, was? Und: Hat er Humor? Was, wie würde er antworten?

 

Zur Monatsausgabe Dezember 2023