und Haiku-Besprechung
von René Possél
SMS in der Kirche
was würde ich
Gott schreiben?
Eleonore Nickolay
gesammelt in einem reiher – morgenstille
Helga Stania
Totensonntag –
noch immer bügelt sie
seine Taschentücher
Marita Bagdahn
studienbeginn –
über der neuen stadt
der alte mond
Alexander Groth
schon siebzig
wie gut er noch aussieht
der Kirschbaum
Wolfgang Hölz
reihenhaussiedlung
neben der witwe zieht
kinderlachen ein
Tobias Tiefensee
Die Stille
nach dem Streit
so laut
Nicole Kullick
Leichenschmaus
beim Nachtisch
erstes Lachen
Wolfgang Hölz
Kein Anschluss
in der Telefonzelle
stehen Bücher
Dieter Gebell
die alten Menschen
schweigend
vor der Kirche
Elena Abendroth
Im November 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 429 Kurzgedichte von 79 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
SMS in der Kirche
was würde ich
Gott schreiben?
Eleonore Nickolay
Die Beobachtung, dass jemand in der Kirche eine SMS schreibt, hat dies Haiku vielleicht hervorgerufen. Die Kirche ist gewöhnlich der Ort, an dem Menschen mit Gott sprechen, kommunizieren. Normaler Weise geschieht dies aber mündlich, im Gebet, und nicht im Schreiben; auch nicht in einer begrenzten Form …
SMS = „short message service“. Das ist ein bekannter Kurznachrichtendienst per Handy seit Ende der 80-er. Er überträgt Nachrichten und ist begrenzt auf 160 Zeichen. Das macht die Botschaften gedrängt und oft lakonisch.
Das Haiku bringt SMS und die Kommunikation mit Gott zusammen mit der Frage: Was würde ich Gott schreiben, wenn ich nur 160 Zeichen zur Verfügung hätte? Der Zwang dieser Form führt zu der Überlegung, Frage, was mir so wichtig ist, dass ich es Gott schreiben würde.
Es ist eine Haiku-like Frage. Auch das Haiku zwingt bekanntlich zur Kürze. Damit ist die Frage ebenso originell wie nachdenklich machend. Unter anderem darüber, wohin ich die SMS schicke…
Man könnte „SMS an Gott“ auch noch anders betrachten – wie Max Frisch mit einer der Fragen seines Fragebogens: „Gesetzt den Fall, Sie glauben an einen Gott: Kennen Sie Anzeichen dafür, dass er Humor hat?“
Würde ich Gott eine SMS schreiben? Wenn ja, was? Und: Hat er Humor? Was, wie würde er antworten?