und Haiku-Besprechung
von René Possél
Schneeschmelze
das Ende
der blauen Schatten
Wolfgang Hölz
die Tonfolge
der Glasflaschen
im Container
Friedrich Winzer
triefendes Grau
trägt der Tag – ich nehme
den bunten Schal
Angelica Seithe
Wartezimmer
nur das Klappern
der Stricknadeln
Friedrich Winzer
Wintermorgen
Nebel
umarmt die Stadt
Stefanie Bucifal
Feldpostbriefe
der letzte des Bündels
vom Kompaniechef
Marie-Luise Schulze Frenking
im schnee
gespürt: das loch
im schuh.
Thomas Steiner
im Friedwald
die Toten unter sich
unberührter Schnee
Elisabeth Weber-Strobel
Ein Reh
im Licht der Scheinwerfer
Dieser Blick
Deborah Karl-Brandt
Auf ihren Lippen
das Lächeln des Vaters
Hochzeitstag
Deborah Karl-Brandt
Im Dezember 2023 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 422 Kurzgedichte von 79 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
Schneeschmelze
das Ende
der blauen Schatten
Wolfgang Hölz
Mit der Schneeschmelze endet die Zeit des Schnees – und all der Schönheiten, die er mit sich gebracht hat.
Wenn Schnee gefallen ist, wirft auch er in der Sonne Schatten – bläuliche Schatten. Dies Blau ist gewissermaßen das Alleinstellungsmerkmal des winterlichen Schnees. Und die Zeit seiner Erscheinung ist begrenzt.
Wenn es wärmer wird, der Schnee schmilzt, zerstört er auch diese flüchtigen Winter-Phänomene. Mit dem Schnee verschwindet so auch sein bläulicher Schatten.
Mehr wird hier nicht gesagt. Indem das Haiku darauf hinweist, zeigt der Autor, dass er die blaue Schönheit des Schattens des Schnees bemerkt und bewundert hat. Man kann aus der Beobachtung und Bemerkung auch Wehmut und Bedauern über die Vergänglichkeit aller Dinge heraushören. Alles vergeht – auch das, was nur als Schatten des Schnees seine eigene Schönheit hatte.