Top-Extra März 2024

und Haiku-Besprechung
von René Possél

 

Nähkorb
in der Kinderhose
drei Kastanien

Wolfgang Hölz

 

srcabble runde
opa erklärt das wort
bandsalat

Tobias Tiefensee

 

Hotel am Bahnhof
nachts rangieren sie
meine Träume

Eleonore Nickolay

 

jetzt werde ich alt
das erste graue Haar
meines Sohnes

Marie-Luise Schulze Frenking

 

radtour am fluss
ich fahre
den himmel entlang

Tobias Tiefensee

 

schichtende
der hafenarbeiter
dockt am tresen an

Tobias Tiefensee

 

Umzug
wird der Garten
mich vermissen?

Eleonore Nickolay

 

Windmühle
das Geräusch des Windes
im Inneren der Mühle

Maya Daneva

 

Gartenschach
der Schatten der Dame
immer näher

Dyrk-Olaf Schreiber

 

Alle Spiegel
lächeln
neue Frisur.

Christiane Freimann

 

Im Februar 2024 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 323 Kurzgedichte von 61 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.

Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.

 

Nähkorb
in der Kinderhose
drei Kastanien

Wolfgang Hölz

 

Einfach scheint mir das Haiku wie das „setting“: Da setzt sich die Autorin/Mutter an ihren Nähkorb, um ein paar Näharbeiten zu erledigen. Darf man gefahrlos vermuten: ein Vater wäre eher unwahrscheinlich?

Sie nimmt eine Kinderhose heraus, die scheint’s irgendwelche Risse oder Löcher hat, um sie zu flicken. Dabei entdeckt sie, in der Tasche der Spielhose ihres Kindes (Junge/Mädchen?), „drei Kastanien“ – vielleicht fallen sie sogar heraus …

Das ist schon alles. Keine große Überraschung: Kastanien in einer Kinderhose. Der Nachhall des Haiku könnte in verschiedene Richtungen gehen. Einmal: dass eine Mutter heute noch flickt und näht, ist sicher seltener geworden – oder?

Zum andern kann ich mir vorstellen, dass die Mutter bei der Erinnerung, wann ihr Kind im Herbst gespielt, die Kastanien aufgelesen und schließlich vergessen hat – lächelt bzw. auf andre Weise gerührt ist. Wie wir auch.

Wir freuen uns vielleicht auch, weil das Haiku zeigt: Es gibt noch Kastanien; es gibt noch Kinder, die draußen spielen und wie zu früheren Zeiten Kastanien sammeln – sei es zum Spielen, Basteln, Aufbewahren oder anderes.

Zuletzt: Mich erinnert das Haiku an ein ähnliches des schwed. Lyrikers Tomas Tranströmer (Nobelpreis 2011). Er hat nur eine Handvoll geschrieben. Für mich gehören sie zu den besten, die ich kenne. Ich dachte an dies:

als der Ausreißer gefasst wurde
hatte er die Taschen
voller Pfifferlinge

 

Zur Monatsausgabe März 2024