Gegenwartsbezug im Haiku
Udo Wenzel
1. Atemzug
Die Aussage, dass der Zeitraum, den ein Haiku umfasst, nicht die Länge eines Atemzuges übersteigen dürfe, ist mir neu. Bekannt dagegen ist mir die Regel, dass ein gesprochenes Haiku die Länge eines Atemzugs haben soll. 17 Silben, so liest man gelegentlich, entsprächen dem.
Umstritten ist auch dies. Die Angabe „Länge eines Atemzugs“ ist wenig exakt. Wann misst man diese Länge? Im Ruhezustand, nach dem Aufstehen, während eines Spaziergangs, nach einem Dauerlauf? Die Länge eines Atemzugs variiert zudem von Mensch zu Mensch. Manche atmen schneller, andere langsamer. Dass sich die Vorliebe für längere oder kürzere Haiku aus einer individuellen Durchschnittsatemgeschwindigkeit erklären lässt, glaube ich nicht. Nur ein Atemzug – ist damit Einatmen oder Ausatmen (das gewöhnlich länger dauert) gemeint, oder doch etwa beides? Wird ein Haiku gesprochen, das die Erfüllung einer weiteren Regel realisiert, das eine Zäsur in der zweiten oder zu Beginn der dritten Zeile aufweist, so ist die Beschränkung auf eine Atemzugslänge nur unter Inkaufnahme eines mangelhaften Vortragsstil zu bewerkstelligen.
Meine nur oberflächliche Recherche ergab, dass die Regel dem 1957 erschienenen Buch „The Japanese Haiku“ von Kenneth Yasuda entnommen ist. Eines der Bücher, die für eine westliche zenorientierte Haiku-Interpretation stehen und nach Haruo Shirane starken Einfluss auf eine vereinseitigte Interpretation des Haiku im Westen hatten. (Haruo Shirane, Traces of Dreams, Stanford 1998, Seite 44-48.) Da es darin um das japanische Haiku geht, ist die Übertragbarkeit kritisch zu überprüfen. Im Japanischen sind 17 Lauteinheiten („onji“ – im Deutschen missverständlich als „Silbe“ übersetzt) vorgeschrieben. Die einzelnen Einheiten sind dort meist von gleicher Länge und kürzer als in unserer Sprache, in der die Länge stark variiert. So heißt es, dass ein Atemzug ungefähr 17 onji entspricht. Ob dies mit 17 Silben anderer Sprachen vergleichbar ist, hängt von der jeweiligen Sprache ab.
Kurz, ich halte die Atemzugsbemerkung weniger für eine exakte Regel als für eine ungefähre Richtlinie, um die Kürze des Haiku zu betonen. Dass von Yasuda als Vergleichsmaßstab ein Atemzug genommen wird, verweist auf seine Verbundenheit mit den einfachen und grundlegenden Lebensprozessen und seine Nähe zum Zen.
2. Augenblick
Die Länge eines Atemzugs als Maßeinheit für die Kürze des im Haiku angesprochenen Zeitraums – vielleicht ist damit gemeint, dass ein Haiku augenblicksbezogen sein sollte. Diese Forderung bedeutet meines Erachtens aber nicht, dass eine den Zeitraum umfassende Vorgangsdauer festgelegt wird, sondern dass der Textinhalt auf einen fokussierten Augenblick bezogen sein sollte. Das Haiku erzählt dabei nicht, es präsentiert. Es ist nicht episch, sondern auf ein Bild, eine kurze Szene oder einen Moment konzentriert. Georges Hartmanns Haiku
Papierlaternen
und silberhelle Stimmchen.
Dann nur noch Stille
kann sowohl „erzählend“ als auch bildhaft gelesen werden, deswegen halte ich es für unproblematisch. Um einen Augenblick zur Geltung bringen zu können, ist es gelegentlich erforderlich, den Kontext zu beschreiben. Wie sollte die spezifische Stille in diesem Haiku überhaupt verständlich werden, wenn das Davor nicht geschildert würde? Für das Nachempfinden ist es wesentlich, aus welchem Klang die Stille entstand.
Es gibt von mir einen Text, der den Zeitraum eines Jahres umfasst, der in der Vergangenheitsform geschrieben ist und den ich dennoch als augenblicksbezogen bezeichnen möchte:
Im letzten Winter
wärmten sie meine Hände –
danach die Motten (2002)
Hier werden vom lyrischen Ich zum Winterbeginn Handschuhe aus einem Schrank oder einer Aufbewahrungsschachtel geholt und es stellt fest, dass sie Löcher enthalten – sie haben den Motten als Nahrung gedient. Von diesem gegenwärtigen Augenblick des Entdeckens lebt der Text, auf ihn bleibt er bezogen.
Liest man die 40 Haiku Bashôs im 1689 entstandenen Sarumino, entdeckt man ebenfalls einige, in denen der Zeitraum nicht eindeutig auf einen gegenwärtigen Augenblick beschränkt ist. Hier eines, welches nur in der Vergangenheit angesiedelt zu sein scheint:
Als ich damals
solche Bambusschößlinge malte –
Trost meiner Kindheit!
(Übertragung von G.S. Dombrady)
Der Text entstand vermutlich beim Betrachten von Bambusschößlingen, einer Zeichnung oder eines Gemäldes derselben. So bleibt auch er trotz Kindheitsverweis und Vergangenheitsform bezogen auf den Augenblick des Wiederentdeckens. In ihm fließen Vergangenheit und Gegenwart in eins. Vergangenheit vergegenwärtigt sich. Ein eigentlich alltäglicher Vorgang. Jede Erinnerung ist in gewisser Weise vergegenwärtigte Vergangenheit.
Dennoch sollte man nicht vergessen, dass Erinnerung nicht unbedingt ein exaktes Abbild einer objektiven Vergangenheit ist, sondern unsere eigene Konstruktion darstellt, die von vielen Faktoren beeinflusst ist. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie sehr diese auch auf Trugbildern beruhen oder vom Erwartungshorizont einer vorgestellten Zukunft geprägt sein kann.
In Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ entspringt einem Augenblick, einem Biss in ein Gebäckstück, eine intensive Erinnerung an die Kindheit. Dieses blitzlichtartige Aufscheinen schließt die Vergangenheit auf und eröffnet einen weitläufigen Erzählstrom. Auch hier fließen die verschiedenen Zeitebenen ineinander. Eine interessante Frage wäre, worin der Unterschied zum „Haiku-Augenblick“ besteht. Jedenfalls würde der Autor eines Haiku dem Fluss der Erzählung nicht folgen, sondern den Anker werfen, um einen bildhaften Ausschnitt mit den ihm zur Verfügung stehenden ästhetischen und sprachlichen Mitteln in gebotener Kürze (der ungefähren Länge eines Atemzugs) zu gestalten. Über die Qualität des Haiku entscheidet letztendlich diese Umsetzung und nicht die Fülle oder die erlebte Intensität des Augenblicks.
Häufig hört man die Forderung, der erlebte Augenblick müsse authentisch sein. Authentizität schützt möglicherweise vor allzu gekünstelt wirkenden Konstruktionen. Vor allem dem Anfänger dient Shikis Betonung des shasei (Skizzen aus dem Leben) als wichtige Orientierung. Dass auch nichtauthentische Texte literarische Bedeutung erringen können, zeigen aber schon die haikai von Bashô oder Buson, denen die Forderung nach mimetischer Darstellung noch fremd war. Auch Bashôs Hauptwerk, die Reiseerzählung „Auf schmalen Pfaden durch das Hinterland“ ist keine dokumentarische Beschreibung. Um des literarischen Effekts willen wurde die Wirklichkeit gelegentlich „korrigiert“. Ein nicht authentischer Text kann, von einem geschickten Autor gestaltet, realistisch wirken und durch die literarische Verdichtung wertvoller werden als eine rein realistische Wiedergabe. Wie für alle Literatur sind Bearbeitung und Gestaltung auch für das Haiku wesentlich.
Ein gutes Beispiel dafür, dass auch konstruierte Haiku Weltruhm erlangen können, ist das wohl berühmteste Haiku Bashôs:
Der alte Teich
ein Frosch springt hinein –
das Geräusch des Wassers.
(Übertragung von D. Krusche)
In Susumu Takiguchis Essay „Can the Spirit of Haiku be Translated?“ über die Widrigkeiten beim Übersetzen japanischer Haiku wird nicht nur deutlich, wie artifiziell dieses Bild Bashôs eigentlich ist, sondern auch dass dessen Bedeutung für die japanische Literatur weniger seiner realistischen Bildkonzeption, sondern seiner Originalität und innovativen Kraft an der Schnittstelle von der klassischen zur bürgerlichen Literatur zu verdanken ist.
3. Offenheit
Aus den mir als Lektüre zur Verfügung stehenden Haiku und Haiku-Übersetzungen schlussfolgere ich, dass das Haiku nicht auf den Augenblick beschränkt ist, aber auf die Gegenwart bezogen sein sollte. Ich möchte aber nicht ausschließen, dass anderswo, beispielsweise in Japan, auch davon abweichende Texte als Haiku bezeichnet werden können oder bereits werden.
„Basho, like his great rival, Saikaku, felt that it was not form that counted, it was the poetry, the quality of the words, how it could move the reader. In their younger years, they broke all kinds of rules. Saikaku was criticized severely, and was told he was just blowing dust. But it was in the process of breaking rules that these poets often made their greatest poetic achievements. Great poets don‘t stick to rules; they make their own.“ (Haruo Shirane, Columbia University, in einem Brief an Marlene Mountain, 2001.)
Bleiben wir also als Leser und Autoren dafür offen, uns von den Gedichten selbst berühren zu lassen und überprüfen wir unsere Regeln und Konzepte daran immer wieder selbstkritisch!
Verwendete Literatur
Matsuo Bashô, Sarumino, Das Affenmäntelchen, Mainz 1994
Haruo Shirane, Traces of Dreams. Landscape, Cultural Memory and the Poetry of Bashô, Stanford 1998.
Haruo Shirane in einem Brief an Marlene Mountain, 2001 siehe unter: http://www.hardtofind.org/hardtofind/marlenemountain/mminfo/revsofmm/o fmm_spirit_shirane.html [September 2018 inaktiv.]
Susumu Takiguchi, Can the Spirit of Haiku be Translated? First Published in Twaddle of An Oxonian, The – Haiku Poems & Essays, Susumu Takiguchi, Ami-Net International Press, England, 2000. Siehe unter:
http://www.worldhaikureview.org/2-1/whcessay_translatedst.shtml [September 2018 inaktiv.]
Ersteinstellung: 18.12.2003