Udo Wenzel
Ich haste die Rolltreppe zum S-Bahnsteig hinauf. Ein Zug nähert sich, vielleicht meiner. Schnell gehe ich die lange Plattform zwischen den Gleisen entlang. Es ist Spätabend. Schnee treibt mir ins Gesicht. Gegenüber ein Fußballfeld, auf dem ein Flutlichtquader liegt. Eine durchsichtige Schachtel aus Licht, in der einige Männer zielstrebig dem Ball hinterherlaufen, andere Orientierung im Schneegestöber zu suchen scheinen. Die Bahn fährt langsam ein und hält. Eine Reihe schmutziggelber Wagen, statt der üblichen rotgrauen. Alle unbeleuchtet. In roten Buchstaben leuchtet es auf der Anzeigetafel „Nicht einsteigen“. Dennoch öffnen sich die Türen. Die Dunkelheit im Inneren scheint sich vor dem schneebedeckten Steig nach außen zu wölben. Der Wind treibt Flocken hinein. Mich überfällt das sichere Gefühl, dass dies meine Bahn ist. Etwas verschiebt sich, als werde eine Schablone vor mein Bewusstsein geschoben oder vielleicht weggezogen. Keine Zeit um darüber nachzudenken. Ich presse meine Aktentasche an mich und springe in den letzten Wagen. Sofort schließt sich die Tür. Ich befinde mich im Dunkel. Auch von außen dringt kein Licht ein. Es ist still. Ein Ruck geht durch den Wagen, der Zug beschleunigt. Sehr schnell mit einem hohen surrenden Geräusch. Ich lasse mich auf einen Sitz fallen und werde sogleich von der Schwerkraft gegen die Rückenlehne gedrückt. Ich kenne dieses Gefühl von startenden Flugzeugen. Tatsächlich stellt sich nach kurzer Zeit auch Ohrendruck ein, als würde rasant Höhe gewonnen. Ich schlucke heftig. Plötzlich verschwindet das Surren und mit ihm der Druck der Beschleunigung. Weit unter mir klingt es, wie wenn eine Bahn über Geleise rolle. Ich werde ruhig und atme tief durch. So fahre ich eine Zeitlang dahin, nichts denkend. Meine Hand wischt über die Scheibe. Eine Öffnung entsteht, groß wie ein Schmetterling, durch die ich hindurchschaue, bevor meine Erinnerung erlischt.
Am Jahrmarkt vorbei –
die Lichter von Riesenrad
und Karussellen
Ersteinstellung: 08.03.2005