Kein Haiku über Nanjing

Udo Wenzel

 

Wie schreiben
über Massaker in
der Sprache der Poesie?

rote Sonne
rote Pfeile
roter Fluss

am Ufer des Yangzi
ein Frachtkahn
im Feuerschein

etwa

in den Worten von
Jewtuschenko?

das Blut fließt
über die Diele,
in Strömen

oder

das Licht
der lebenden Fackeln
leitete sie

in der Höhle
wo einst Eremiten lebten
suchten sie Schutz

die Salven der MG’s
dröhnten wider
die Purpurberge

doch

die alte Frau
mag keine Gedichte

sie hört noch heute
die Geräusche von Gestern
sie bringt noch heute
den Hut ihres Vaters
zum Dorffest
so glaubt sie so tröstet sie
seine rastlose Seele

Schatten-
durchwoben, ein Zweig
im Dezember

vielleicht

stehen sie starr:
die Mühlen der Poesie
wo Schulbücher
vergessen lehren

 

Nanjing (auch Nanking): Ehemalige chinesische Hauptstadt, liegt im Osten der Volksrepublik China am Beginn des Yangzi-Deltas. Am 13. Dezember 1937 besetzten während des „Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs“ japanische Divisionen die Stadt und verübten an der Zivilbevölkerung ein Massaker. Dabei vergewaltigte die Japanische Armee innerhalb von acht Wochen schätzungsweise 20.000 Mädchen und Frauen systematisch und tötete etwa 350.000 Zivilisten. Diese Massaker sind der erste Fall einer systematischen Massenvergewaltigung als Mittel der modernen Kriegsführung. Seit den 1970er Jahren wurden in Japan teilweise heftige Debatten über die Einschätzung dieses Massakers geführt, nationalistische Kreise bestritten seine Existenz oder verharmlosten es, in den 1990ern gab es Spannungen zwischen Japan und der VR China, weil einige Schulbüchern nicht mehr über das Massaker berichteten oder es beschönigt darstellten.

Jewtuschenko: Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko, russischer Dichter, geb. 1932. Schrieb das Gedicht Babi Jar über einen von der deutschen Wehrmacht und der SS verübten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Am 29. und 30.September 1941 wurden in der Schlucht Babi Jar bei Kiew 33.371 Juden durch Maschinengewehrfeuer ermordet. Die deutsche Übersetzung des Gedichts stammt von Paul Celan, zwei Verse spielen auf Verse dieser Übersetzung an (siehe Paul Celan: Gesammelte Werke. Bd. 5. Übertragungen II. Frankfurt/M. 2000. S. 288ff.).

 

Ersteinstellung: 15.12.2007