Ein Gespräch über das Haiku
zwischen Klaus-Dieter Wirth und Volker Friebel
Volker Friebel: Du bist schon eine ganze Weile auf Haiku-Pfaden unterwegs. Wie und wann bist du denn zum Haiku gekommen?
Klaus-Dieter Wirth: Mein (inter)nationaler Haiku-Werdegang.
Mein erster Kontakt mit dem Haiku geschah bereits 1967 durch die Lektüre des Büchleins „Japanische Literatur. Eine Einführung für westliche Leser“ (Donald Keene, Zürich 1962). In der Folgezeit entstanden nur wenige eigene Haiku-Versuche mit gewissen Einblicken in die klassisch japanische Literatur. Erst 27 Jahre später erfuhr ich zu meiner Überraschung von der Existenz einer deutschen Haiku-Gesellschaft, welcher ich mich sogleich anschloss.
Doch welch eine Enttäuschung! Nur allzu bald stellte es sich nämlich heraus, dass ich in ein strikt autokratisch geführtes „Kaffeekränzchen“ geraten war, in dem allein die Pflege des 5-7-5 Silben-Credos, Intransparenz und lobhudelnde Nabelschau betrieben wurde, eine Situation, in der sich einfach nichts bewegen ließ, mit der Folge, dass man mich schon nach zweieinhalb Jahren Mitgliedschaft als unerwünschten Störenfried aus der DHG ausschloss. Doch es war viel Gutes dabei: Zunächst hatte ich schon im Mai desselben Jahres 1997 auf dem sogenannten 4. Kongress der DHG in Gföhl/Österreich den späteren Präsidenten der BHS, David Cobb, getroffen, der, genauso erstaunt wie ich darüber wie und was dort ablief, mir gleich seine Britische Haiku-Gesellschaft als neue Heimat anbot. Sodann lernte ich auf dem sogenannten Shuttle-Event, einer Zusammenkunft internationaler Haiku-Autoren im Oktober desselben Jahres zwischen Calais und Folkestone, unter anderen auch den niederländischen Haiku-Enthusiasten Willem van der Molen kennen, jahrelang Redakteur der ältesten, noch bestehenden, europäischen Haiku-Zeitschrift Vuursteen (Feuerstein) und dann auch von 1991 bis 2002 Herausgeber von Kortheidshalve (Der Kürze halber), einer eigenen Zeitschrift für das kurze Gedicht mit Schwerpunkt auf dem Haiku. Bezeichnenderweise berichtete mir damals selbst Willem, dass sozusagen alle niederländischen Haiku-Begeisterte, die erwartungsvoll in die DHG eingetreten waren, sie schon bald aus Enttäuschung wieder verlassen hatten. Desgleichen zeigten andererseits auch die wiederholten, eindringlichen Appelle der renommierten Deutschamerikaner Jane Reichhold und Werner Reichhold, Gründer der AHA-Poetry 1996 und Herausgeber von „LYNX (Luchs + Wortspiel mit Links = Verbindungen), A Journal for Linking Poets“ von 2000-2014, keinerlei Beachtung und damit Auswirkung auf die Entwicklung der damaligen DHG.
Es waren also insbesondere jene Begegnungen auf dem besagten Shuttle-Ereignis – darunter weiterhin die Bekanntschaften mit dem belgischen Haiku-Pionier Bart Mesotten, dem französischen Japanologen Alain Kervern oder dem avantgardistischen japanischen Haiku-Autor Ban‘ya Natsuishi –, die sogleich meine fortwährende aktive Mitarbeit im internationalen Haiku-Geschehen in Gang brachten. Die Saat war gelegt. Das aufkommende Internet tat bald sein Übriges hinzu.
Weitere Mitgliedschaften folgten: bei der HSA (Haiku Society of America), der kanadischen Haikugesellschaft und dann vor allem gleich kurz nach ihrer Gründung 2003 bei der AFH, der frankophonen Haiku-Gesellschaft, bei der ich nicht nur von 2004 bis 2013 Mitglied im Vorstand war, sondern immer noch als Mitglied der Redaktion des Gong kontinuierlich u. a. bis zu zwei längere Beiträge schreibe. Außerdem arbeitete ich von 2004 bis 2006 an der von Ion Codrescu gegründeten, rumänisch-englischen Haiku-Zeitschrift Hermitage (Einsiedelei) mit, dann von 2010 bis 2015 als Mitherausgeber an der von Max Verhart gegründeten, niederländisch-englischen Haiku-Publikation Whirligig (Taumelkäfer); und ich bin immer noch Mitherausgeber an der von Dietmar Tauchner 2007 gegründeten, deutsch-englischen Internet-Zeitschrift Chrysanthemum, ab 2016 (N° 20) nur noch von Beate Conrad und mir fortgeführt. Prägend waren auch die Jahre 2009 bis 2020, in denen ich regen Anteil an dem Erscheinen der spanischen Internet-Zeitschrift HELA (Hojas en la acera / Blätter auf dem Bürgersteig) nahm.
Aus all diesen Basisvoraussetzungen ergaben sich verständlicherweise zahlreiche persönliche Kontakte in ganz Europa und Übersee. Hinzu ergaben sich Anknüpfungspunkte und Bezugnahmen durch meine weiteren, auch japanischen Zeitschriften-Abonnements, diverse Essay- und Übersetzungsbeiträge, durch meine Teilnahme an internationalen Wettbewerben und vor allem an derartigen Veranstaltungen vor Ort. So hatte ich zweimal in Brüssel und einmal in Gent sogar die Gelegenheit, mich mit dem ehemaligen 1. Europaratspräsidenten Herman Van Rompoy in Sachen Haiku auszutauschen.
Doch nun zurück zur deutschen Haikuszene: 2003 löste Martin Berner, auch Mitglied der unter Leitung von Erika Schwalm stets regen Frankfurter Haiku-Gruppe, die sich löblicherweise am Rande der DHG immer schon tapfer bemüht hatte, einen weltoffeneren Kurs zu fahren, endlich die unselige Dauerpräsidentschaft von Margret Buerschaper ab. Obwohl er seiner Herkunft entsprechend gleich einen entspannteren Kurs zu fahren versuchte, hatte er es nachvollziehbar nicht leicht, sich gegen die eingefahrenen Vorstellungen der Stammklientel durchzusetzen. Ein wichtiges Ereignis war dann in diesem Zusammenhang der von Erika Schwalm organisierte 1. Europäische Haiku-Kongress in Bad Nauheim, ein großer, internationaler Erfolg, der – ausgerechnet noch im Namen der DHG veranstaltet – schlicht und einfach überraschte. Am Ende war er jedoch ausschließlich jener emsigen, zu der Zeit schon todkranken kleinen Frankfurterin zu verdanken, die sich schon immer mit sehr viel Herzblut für das Haiku eingesetzt hatte. Deshalb war es auch mir nicht möglich, mich ihrem Wunsch zu entziehen, wenigstens Übersetzungsarbeiten für dieses Ereignis zu übernehmen. Trotzdem hielt ich die Zeit noch nicht für gekommen, mich ganz mit der Vergangenheit auszusöhnen, als mich Martin daraufhin ansprach. Doch 2009 war es schließlich so weit, als er ankündigte, sich ganz aus dem Vorstand zurückzuziehen und es sogar danach aussah, dass die weitere Existenz der DHG auf dem Spiel stand.
Wieder war Bad Nauheim der Schicksalsort. Und das keineswegs zu Erwartende geschah. Nicht nur in der Frage des Fortbestands der Gesellschaft, sondern auch bei der konsequenten Wende in ihrer Ausrichtung kam es letztlich doch überraschend zu positiven Ergebnissen: ein kräftig erneuerter Vorstand, in dessen frischer Zuversicht ich mich außerdem als neues Mitglied ganz mit meinen Vorstellungen einbringen konnte. Diese waren: zukünftig auf absolute Transparenz in allen Belangen zu achten, bei Wettbewerben die eingereichten Beiträge zu anonymisieren, um sie erst dann einer stets wechselnden, dreiköpfigen Jury vorzulegen und schließlich eine überfällige, echt internationale Öffnung bei der Neuorientierung einzurichten. Von Anfang an trugen in der Folge wohl auch insbesondere meine regelmäßigen Artikel „Grundbausteine des Haiku“ mit ihren zahlreichen, ausländischen Haiku-Beispielen im Sommergras bei. Insgesamt erschienen in dieser Serie über die Jahre 45 Themenbeiträge, die sogar großes, internationales Interesse fanden, da sie inzwischen in Übersetzung bis zur Nr. 38 auch in der flämisch-niederländischen Haiku-Zeitschrift Vuursteen sowie bis zur Nr. 27 im französischen Gong veröffentlicht wurden. Geradezu einen Quantensprung stellte 2013 das dar, was den Mitgliedern auf ihrer Versammlung zum 25jährigen Bestehen der DHG in Ochtrup (Münsterland) geboten werden konnte: eine persönliche Haiga-Präsentation des rumänischen Kunstprofessors Ion Codrescu und außerdem Vortragende bzw. Teilnehmer aus Österreich (Dietmar Tauchner), Frankreich (Sam Yada Cannarozzi), den USA (David Lanoue) und den Niederlanden (Max Verhart). Dank der problemlosen, guten Zusammenarbeit aller nachfolgenden Vorstandsmitglieder hat sich die DHG seitdem erfreulicherweise so weiterentwickelt, dass sie jetzt meiner Einschätzung nach eher besonders attraktiv erscheint, insbesondere mit ihrer Zeitschrift Sommergras und ihrem Online-Portal Hallo Haiku. Und noch ein Glücksfall: die Besetzung des derzeitigen Vorstands, die wohl kaum effizienter vorstellbar ist.
Ich selbst bin mittlerweile schon 14 Jahre mitgestaltendes Mitglied im Vorstand der DHG, im Übrigen seit Längerem auch Mitglied bei der Österreichischen Haiku-Gesellschaft (ÖHG). Während dieser Jahre ist erfreulicherweise all das erreicht worden, was ich mir für das deutschsprachige Haiku immer schon gewünscht hatte. Wo es allerdings nach wie vor weiterhin hakt, ist zum einen das Heranführen der Jugend an das Haiku. Seine Behandlung nur im Curriculum festzuhalten, reicht, wie die Erfahrung gezeigt hat, einfach nicht aus, um das Lehrpersonal hinreichend für diesen Unterrichtsstoff zu interessieren, geschweige denn auszustaffieren. Es fehlt vielmehr am von den Schulbehörden bereit zu stellenden Lehrmaterial, seitens der DHG letztlich am „Missionierungspersonal“. Und so können leider auch nicht einmal annähernd die Vorstellungen erfüllt werden, die der japanischen Fluggesellschaft (JAL) für ihren 2-jährig ausgeschriebenen Kinder-Haiku-Wettbewerb vorschweben. Ein zweites Manko ist, dass sich trotz aller Anstrengungen kaum regional aktive Haiku-Gruppierungen zusammenfinden wollen. Ein drittes, dass es zwar erstaunlich viele städtische, Deutsch-Japanische Gesellschaften gibt, die jedoch leider primär nur wirtschaftspolitisch ausgerichtet und kaum kulturell interessiert sind. Schließlich hat sich viertens herausgestellt, dass auch an die universitäre Japanologie offensichtlich kein Herankommen ist. Fazit: Die weltweit zu beobachtende Begeisterung für das Haiku hätte – fast möchte man sagen als therapeutischen Gegenpol – mehr Aufmerksamkeit verdient als nur die ihrer verhältnismäßig wenigen Einzelentdecker und -liebhaber. Bekanntlich sind indes anstehende Aufgaben nur durch beharrlichen Einsatz für die Sache zu bewältigen!
Volker Friebel: „… ist erfreulicherweise all das erreicht worden, was ich mir für das deutschsprachige Haiku immer schon gewünscht hatte“, schreibst du. Was ist mit der Stellung des Haiku in der Dichtung? Und mit der Stellung der Dichtung in der Gesellschaft? Die Dichter klagen seit Jahrhunderten schon, mir scheint allerdings, dass Lyrik tatsächlich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger geschätzt wird und die Zahl der Leser und der Dichter mittlerweile fast identisch ist. Ist das nur mein Eindruck? Wenn nicht, woran liegt das? An der stark gewachsenen Vielfalt an Beschäftigungsmöglichkeiten? Oder stimmt etwas mit der Dichtung, so wie wir sie verstehen, nicht? Was für einen Zweck erfüllt Dichtung, so das Haiku, heute?
Klaus-Dieter Wirth: Zunächst ist festzustellen, dass das Haiku trotz der verblüffend großen Popularität, die es nach dem 2. Weltkrieg sogar weltweit zunehmend gewonnen hat, immer noch um seine vollständige Anerkennung bei den sogenannten Mainstream-Dichtern ringt. Doch diese stecken selbst schon seit dem 1. Weltkrieg unübersehbar in einer tiefen Krise, aus der sie sich höchstwahrscheinlich nie mehr werden befreien können. Mit der stark gewachsenen Vielfalt an Beschäftigungsmöglichkeiten hat das rein gar nichts zu tun. Die Lyrik hatte vielmehr den damaligen, grausamen Geschehnissen und den noch unvorstellbareren danach einfach nichts mehr entgegen zu setzen, fand sich mit ihrer herkömmlichen Ästhetik, nicht einmal mitleidig belächelt, in einer unglaubwürdig gewordenen Idylleecke wieder und verspielte dann auch noch in der Erkenntnis ihrer misslichen Lage durch das eigene Zerschlagen ihrer seit jeher geschätzten Werte ihre letzte Daseinsberechtigung. Das verbliebene Dada-Gestammel, die Flucht in bloß kryptische Wortkonstrukte wie vor allem der damit verbundene Verlust der Memorierbarkeit, die im Übrigen auch das Volkslied geprägt hat, erwiesen sich fortan als absolut ungeeignet, die wichtige Funktion einer allseits geschätzten Lebensbegleitung zu erfüllen, ebenso bedeutsam für das allgemeine, sozial-kulturelle Bewusstsein.
Hier allerdings eröffnet sich meines Erachtens eine neue, große Chance gerade für das Haiku, entsprechen doch seine außergewöhnliche Kürze, seine augenblicks- und dazu realitätsbezogene Thematik, seine kommunikative Offenheit – befördert durch das Internet – genau unserem Zeitgeist!
Volker Friebel: Du bist sowohl in der Deutschen Haiku-Gesellschaft (DHG) als auch in anderssprachigen Haiku-Vereinigungen tätig. Wo denn überall, und wie lassen sich diese Vereinigungen – auch im Unterschied zueinander – charakterisieren? Und wie schätzt du die Entwicklung des Haiku in Japan, in Europa, im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten ein?
Klaus-Dieter Wirth: Die Entwicklung des neuzeitlichen Haiku in Japan und der westlichen Welt.
Betrachtet man die Entwicklungsgeschichte des Haiku in der neueren Zeit, so lassen sich in groben Zügen zwei signifikante Perioden ausmachen: Die erste stellt die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert dar, als Masaoka Shiki (1867-1902) dem japanischen Haiku nicht nur seinen neuen Namen, sondern auch eine wirklichkeitsbetontere Ausrichtung (shasei) gab, und als andererseits auch das Haiku erst nach der von Amerika politisch erzwungenen Öffnung des Landes 1853 für den Okzident entdeckt wurde.
Aus traditioneller Sicht brachten Shikis Reformbemühungen noch keine allzu große Umorientierung mit sich. Wichtiger waren wohl die Auswirkungen der Berührung mit den ganz andersartigen westlichen Literaturvorstellungen, wie sie sich schon bald bei seinen Schülern abzeichnete. Während Takahama Kyoshi (1874-1959) umso rigoroser weiter die traditionell basierte Linie vertrat, versuchte Kawahigashi Hekigotô (1873-1937) sich bereits aus den überkommenen Fesseln zu befreien, was im weiteren Verlauf geradezu avantgardistische Bestrebungen hervorrief. Das Ergebnis zeigt sich bis heute prinzipiell in einer unversöhnlich geteilten Anhängerschaft von Traditionalisten und Vertretern des „Freistil-Haiku“.
Auf westlicher Seite kam es dagegen in der gleichen Zeit zu einer ersten Rezeptionswelle der neuen Gedichtform, allerdings praktisch fast nur auf Frankreich beschränkt. So war es Paul-Louis Couchoud (1879-1959), der, nachdem er das Haiku auf Japanreisen für sich entdeckt hatte, derart davon begeistert war, dass er sich 1905 auf einer Bootsfahrt mit seinen Freunden, dem Bildhauer Albert Poncin und dem Maler André Faure, an erste, eigenständige Haiku-Kompositionen unter dem Titel Au fil de l‘eau (Am Wasser entlang) heranwagte. Ein bescheidener Anfang mit immerhin 72 Texten, die aber offensichtlich so viel Aufmerksamkeit fanden, dass Julien Vocance 1916 sogar eine thematisch umso erstaunlichere Sammlung mit 100 Kriegshaiku direkt aus den Schützengräben (Cent visions de guerre) herausgeben konnte. Und die Popularität des Haiku nahm so weit zu, dass es René Maublanc schon 1923 gelang, sogar noch bei 24 vorgegebenen Themen genügend Autoren in einer Anthologie zusammenzubringen. Eine einmalige Entwicklung, denn in den anderen westlichen Ländern blieb es, abgesehen von wenigen Einzelversuchen, lediglich bei Übersetzungen japanischer Vorlagen.
Die zweite, entscheidendere Entwicklungsphase setzte nach dem 2. Weltkrieg ein, und zwar gleich mit mehreren Pionieren: für den englischsprachigen Raum sind vor allem zu nennen Reginald H. Blyth mit seiner vierbändigen Publikation Haiku (1949-52), sodann Kenneth Yasuda mit The Japanese Haiku (1957), Harold G. Henderson mit An Introduction to Haiku; an Anthology of Poems and Poets from Bashô to Shiki (1958) und William J. Higginson mit The Haiku Handbook (1986). In Europa war es der Kroate Vladimir Devidé, der mit seiner Publikation Japanese haiku poetry and its cultural framework 1970 wegweisend für das Haiku im Balkan wurde, im niederländischen Sprachgebiet die autodidaktische Japanologin J. van Tooren mit ihrem Standardwerk Haiku – een jonge maan (Haiku – ein junger Mond) 1970, in der spanischsprachigen Welt Fernando Rodríguez-Izquierdo mit seiner Orientierungspublikation El haiku japonés. Historia y traducción 1993. Das sich zur selben Zeit im deutschen Umfeld herausbildende Haiku war demgegenüber leider gleich von zwei Unsternen beschienen, denn sowohl die eklektischen Übersetzungsversuche Japanische Jahreszeiten – Tanka und Haiku aus dreizehn Jahrhunderten von Gerolf Coudenhove (1963) als auch Japanische Dreizeiler von Jan Ulenbrook (1986) gaben alles andere als verlässliche Vorlagen an die Hand. Dazu von den renommierten Verlagen Manesse und Reclam in mehreren Auflagen auf den Markt gebracht, trugen sie mit Gewissheit auch ihren erheblichen Anteil an der in ihren Anfängen eher unglücklichen Entwicklung des deutschen Haiku bei. Dank der konsequenten, internationalen Öffnung seit 2009 konnten diese früheren Defizite glücklicherweise inzwischen sukzessive mit flexiblen, in mancher Hinsicht sogar progressiven Ergebnissen aufgearbeitet werden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein, wenn auch allgemeiner, internationaler Vergleich: Die konservativste Grundeinstellung dürfte das spanischsprachige Haiku unter dem Diktat seines Literaturprofessors Vicente Haya vertreten, welcher nicht müde wird, die drei traditionellen Basiskriterien als unabdingbar, als das Geheiligte (lo sagrado), zu proklamieren. Heraus kommen dadurch leider nicht selten so etwas wie idyllische Naturabziehbildchen.
Am unwilligsten, sich Regeln zu beugen, ist dagegen das amerikanische Haiku, von Anfang an davon geprägt, neue Wege zu gehen, sich durch Experimente hervorzutun, durch übertriebene Kürze, durch Streben nach Originalität, durch psychologisierende Egozentrik und – als Kardinalcredo – durch vielfach kaum nachvollziehbare Juxtapositionen den Anspruch zu pflegen, Trendsetter zu sein. Nicht von ungefähr entstanden aufgrund dieser Einstellung selbst neue Kurzkettengedichtformen bis hin zu einem Kürzesthaibuntypus, woraus insgesamt gesehen sogar die Gefahr droht, dass sich das amerikanische Haiku zu einer eigenen Gattung auswächst. Geradezu beruhigend, dass die übrige, kaum minder große, weltweit englischsprachige Haiku-Gemeinde deutlich weniger dieselbe Unrast verspürt!
Wohltuend auch, dass das sonstige europäische Haiku im Grunde genommen auf dem Boden der Tatsachen geblieben ist, indem es sich weiter bemüht, nicht den Blick hinüber zu seinem japanischen Vorbild zu vernachlässigen. In diesem Zusammenhang ist allerdings – gut nachvollziehbar – festzustellen, dass im hiesigen Bereich dem häuslich-städtischen Umfeld eine deutlich größere Aufmerksamkeit beigemessen wird, wobei sich das niederländischsprachige Haiku wie das der Balkanländer als besonders anheimelnd bodenständig-familiär erweist. Das französische wendet sich zudem gerne den zwischenmenschlichen Beziehungen zu, aufbauend auf seiner zwischenzeitlich unterbrochenen, eigenen Entwicklungsgeschichte. Auch in den skandinavischen Ländern, im Baltikum, in Ungarn, besonders Rumänien, Griechenland, Italien und Portugal hat das Haiku längst Fuß gefasst, und der problemlos gewordene Austausch über das Internet tut sein Übriges, damit das Haiku weiter an Popularität gewinnt. Möge man gegenseitig auf seine Pflege achten!
Zur Person
Klaus-Dieter Wirth wurde 1940 in Neuss am Rhein geboren. Heute lebt er in Viersen, knapp 30 Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, sowie teilweise auch in Burg, einem Weindorf an der Mosel. Bis zu seiner Pensionierung war er als Neuphilologe (englisch, französisch, spanisch, niederländisch) mit Lehrtätigkeit am Gymnasium und an der Universität Düsseldorf im Bereich der Literaturübersetzung tätig. Er beschäftigt sich seit über 30 Jahren intensiv mit dem literarisch-kulturellen Umfeld des japanischen Haiku. Dabei erleichterte ihm insbesondere das Aufkommen des Internets den Zugang zu internationalen Kontakten, woraus sich zugleich die aktive Mitgliedschaft in mehreren Haikugesellschaften (DE, AT, NL, FR, GB, US, CA) mit weltweiten Korrespondenzen wie auch persönlichen Treffen und entsprechendem Kenntnisaustausch ergab. Nicht zuletzt vertieften ebenso Japanreisen mit ihren vielfältigen Eindrücken sein umfangreiches Wissen.
So entstand ein großes Spektrum an speziellen Artikeln zum Thema Haiku in diversen Zeitschriften, insbesondere im deutschen Sommergras, im französischen Gong, im niederländischen Vuursteen und im britischen Blithe Spirit. Dazu wurden bislang an die 1000 seiner Haiku einzeln oder in Anthologien veröffentlicht, etliche mit Preisen bedacht.
Letzte Veröffentlichungen, alle im Allitera-Verlag, München:
Viersprachige Anthologien:
Zugvögel – Migratory Birds – Oiseaux migrateurs – Aves migratorias,
150 Haiku, 2. Auflage 2020, ISBN 978-3-96233-231-0
Im Sog der Stille – In the Wake of Silence – Dans le sillage du silence – En la estela del silencio,
208 Haiku, 2. Auflage 2020, ISBN 978-3-96233-230-3
Stimmen der Steine – Voices of Stones – Voix de pierres – Voces de piedras,
145 Haiku, 2020, ISBN 978-3-96233-228-0
Entkernte Zeit– Stoned Time – Temps dénoyauté – Tiempo deshuesado,
127 Haiku. 2022, ISBN 978-3-96233-330-0
Ihre Besonderheit: Alle darin enthaltenen Haiku wurden in der einen oder anderen Version bereits in internationalen Haiku-Zeitschriften veröffentlicht, sozusagen ein Nachweis ihrer Anerkennung!
Ein umfangreiches, zweiteiliges Haiku-Kompendium: Der Ruf des Hototogisu – Grundbausteine des Haiku.
2019, Teil 1 ISBN 978-3-96233-155-9
2020, Teil 2 ISBN 978-3-96233-229-7
mit ca, 1900 (!) ausgewählten, internationalen Haiku-Beispielen, alle Versionen mit deutscher Übersetzung
Außerdem im Hamburger Haiku-Verlag:
Mitten ins Gesicht – Haiku aus dem Krieg 1914-1918, 2014; eine Übersetzung des französischen Originals En pleine figure – Haïkus de la guerre 14-18, Paris 2013
und im Rotkiefer-Verlag, Berlin:
Japanisches Glossar rund um das Haiku und verwandte Kunstformen im Rahmen der japanischen Kultur, 300 S., 2022, ISBN 978-3-949029-14-1
Sechs Haiku vom Autor selbst ausgewählt
Ein Rotkehlchen setzt
auf dem Stiel meines Spatens
ein Pausenzeichen
im Wildgehege
zwischen Mensch und Tier ein Zaun
beide dahinter
im Stau
Wolken
lösen sich auf
Perlenvorhang
das Rasseln
von gefiltertem Licht
im Sog der Stille
das Naschen eines Falters
an Duft und Farbe
Biberwelle
das sanfte Schwanken
des vollen Monds
Sechs Haiku des Autors ausgewählt von Volker Friebel
Tempelruine
die hängenden Säulen
tanzender Mücken
durch flirrendes Laub
das Gleißen des Flusses
ein Tempelgong
an der Klagemauer
auch die Schatten
beten
Hund im Halbschlaf
ein Blütenblatt weggeblasen
von einem Seufzer
Hyazinthenduft
Erinnerung an das Blau
deines Lidschattens
nach dem Vorbeiflug
der Kampfjets das Dröhnen
der Stille
Haiku von Klaus-Dieter Wirth sind in seinen Büchern, in Anthologien, in Haiku-Zeitschriften sowie in allen Haiku-Jahrbüchern ab 2007 zu lesen: https://www.haiku-heute.de/jahrbuch/