und Haiku-Besprechung
von René Possél
erster schnee
der blick aus dem fenster
in die kindheit
Martin Speier
Herbstsonne
die goldene Seite
des Baumes
Ingrid Meinerts
klarer herbstmorgen
aufgehen
in einem vogellied
Michaela Kiock
am Dachfenster
nur der Mond sieht
die Eisblüte
Claus Hansson
zwischen den Jahren
ein Stern auf dem Weg
in den Staubbeutel
Eleonore Nickolay
für den Neujahrsring
den Teig gewürzt mit
allerlei Gedanken
Angelika Holweger
Zirkus-Winterquartier
das Kamel schaut
den Sternsingern hinterher
Bernadette Duncan
Oma kontrolliert
nach den Abendnachrichten
die Vorratskammer.
Moritz Wulf Lange
Ein Lacher durchbricht die Geradlinigkeit seiner Worte
Andrea D’Alessandro
die alte Marktfrau
gibt Geld heraus und schenkt
sich ein Lächeln
Frank Sauer
Im Dezember 2022 gingen für die Monatsauswahl Haiku heute 396 Haiku von 70 Autoren ein. René Possél bekam die Liste der Haiku alphabetisch geordnet ohne Autorennamen vorgelegt und wählte aus ihr 10 Texte als besonders gelungen aus. Die ausgewählten Texte stehen in einer von ihm gewählten Reihenfolge.
Zu einem der Haiku schrieb er die untere Besprechung.
erster schnee
der blick aus dem fenster
in die kindheit
Martin Speier
Eine Erfahrung, die vermutlich jeder schon gemacht hat: Da schneit es zum ersten Mal im Jahr. Wenn man sich im Haus befindet, geht automatisch der Blick aus dem Fenster hinaus zum ersten Schnee draußen.
Soweit die normale Beschreibung der beiden ersten Zeilen dieses Haiku. Was dann passiert, ist das Ungewöhnliche, ja Poetische dieses „einfach guten Haiku“. Der erste Schnee des Jahres evoziert den ersten Schnee der eigenen Kindheit. Der Blick aus dem Fenster wird so zum Blick in die Kindheit – die dritte Zeile des Haiku übersteigt die „normale“ Perspektive.
Erinnerungen tauchen auf: die Faszination der Weiß-heit überall, die Schlittenfahrten mit anderen Kindern den Rodelhang hinab, die Schneeballschlachten, vielleicht „weiße Weihnachten“ usw.
Was ist es, dass Phänomene der Natur Gefühle und Geschichten der eigenen Lebensgeschichte in uns hervorrufen – die wiederum die Einmaligkeit der Welt und unsres individuellen Lebens zeigen?!
In der Nobelpreisrede der polnischen Lyrikerin Wislawa Szymborska von 1996 las ich, was sie dichtend erkannte:
„In der Sprache der Poesie … ist nichts gewöhnlich, nichts normal. Kein Stein und keine Wolke darüber. Nicht ein einziger Tag und nicht eine einzige Nacht danach. Und vor allem kein einziges Dasein hier auf dieser Erde.“