Auf dem Hohenstaufen

Volker Friebel

 

Der Hohenstaufen

 

Alte Dateien … An der Aufzeichnung einer Fahrradfahrt bleibe ich hängen: Mitte Juni 1994 fuhr ich von Tübingen nach Schwäbisch Hall zu den Festspielen. Ich schaue mir die Strecke auf der Karte an. Es sind 132 Kilometer, auf der kürzesten Route. Die habe ich damals nicht gekannt. Ich höre ein Fahrrad wiehern und steige auf.

Übermütig improvisierte ich Lieder ins Diktiergerät, Hymnen an die Sonne, den Wind, das Unterwegssein ohne Verpflichtung. Ein Kassettenrekorder war das, über den Diktierstift bin ich heute beim Smartphone gelandet. Die Lieder sind immer noch da. Und die Haiku. Ich tauche tief ein in meine Notizen …

 

Ein Kopftuch, geknüpft
in den Baum am Feldweg, schlaff
nach dem Regen.

hinter Kirchentellinsfurt

 

Still und grün zwischen festgezurrten Steinblöcken der Neckar. Flüsse sind, so heißt es, die Lebensadern des Landes. Begradigt.

Ein paar Rapsblüten an seinem Ufer, den Feldern entkommen.

Ein Spatz scheint in der Luft zu tanzen. Ein schönes Bild. Nur für den Käfer nicht, um den der Tanz geht, der nur ganz kurz aufblitzt.

Was unterscheidet die Gier des Menschen von dieser Spatzen-Gier? Beides ist strömendes Leben. Vielleicht, dass der Spatz nur ab und zu einen schmackhaften Teil dieser Welt verschluckt, den diese schnell wieder ersetzt, während der Mensch das freie Land zu Feldern und Forsten umgestaltet, die Moore zuschüttet, die Flüsse in Kanäle verwandelt. Der Spatz würde vielleicht den Himmel in Weiden parzellieren, könnte er.

Ich raste in einer Schutzhütte. Vor ihrem Eingang hängt ein Spinnennetz. Wandern ist außer Mode gekommen – wie schön.

Eine Brücke hoch über dem Neckartal. Die Autos auf ihr scheinen still, hinter den Liedern der Lerchen ringsum.

Vor Jahrhunderten schwemmte der Fluss an der Perlenkette der Siedlungen Schwarzwaldtannen vorbei, in langen Flößen, zum Rhein und den Küstenstädten der Niederlande. Da wurden dann Schiffe daraus, die kreuzten alle Meere der Welt.

 

Am Flößerdenkmal
die Bank aus Stein – und leere
Bierflaschen.

Neckartenzlingen

 

Einige Jahre später sollte dieses Haiku mir als Eintrittskarte in etwas Neues dienen, das es zum Zeitpunkt seiner Entstehung noch kaum gab: Das Netz. Eine eigene Netzseite hatte ich zwar bereits 1999, aber erst Mitte 2001 kam ich auf den Gedanken, in einer Suchmaschine Stichwörter einzugeben, mich im Netz nach den Dingen umzutun, die mich interessieren.

Unter „Haiku“ gab es zwei Angebote. Das japanischtümelnde eines Kampfsportmeisters mit wenig Substanz – und eine Präsenz namens haikuhaiku.de. Da las ich interessiert die Auswahlen, die der Betreiber Hans-Peter Kraus aus den eingesandten Haiku zusammengestellt hatte. Gerade hatte er den Turnus von Jahres- auf Vierteljahresausgaben verändert und eine Jury eingerichtet. Die meisten der aufgenommenen Haiku ließen mein Herz höher schlagen. Sollte es möglich sein …

Ich beschloss, mein Glück zu versuchen und sandte das Flößer-Haiku ein, etwas umgestellt. Und fand mich in der nächsten Vierteljahresauswahl wieder – und bald auch in der Jury, als Teilnehmer einer flirrenden Gesprächsrunde, die, ich denke, das darf man behaupten, eine Neugeburt des deutschsprachigen Haiku begleitete und auf Jahre hinaus dessen Entwicklung mit prägte.

Betrachte ich mir nun mein Werk: Stein als Sinnbild für Dauer neben dem Fluss und den lange verschwundenen Flößen, die leeren Bierflaschen assoziieren die arbeitslos gewordenen Flößer – alles korrekt, etwas statisch und damit langweilig vielleicht, aber ein Haiku ist es, was will man denn immer noch mehr …

 

Brunnen am Hang.
Der steinerne Frosch schaut
zum Neckar.

hinter Neckartenzlingen

 

Am Wehr –
die Ruhe des Wassers
vor dem Sturz.

bei Neckarhausen

 

Die vielen Flecken Mohn in der Gerste: ein katholisches Feld.

Die Schilder des Fahrradwegs. Firmenschilder an der Bahnlinie nach Stuttgart. Neben einem Stauwehr die Fischtreppe (schon damals). Ein Postfrachtzentrum. An der Bundesstraße das Schild „Naturdenkmal“. Aber für was? Eine US-Flagge im Schrebergärtchen. (Damals, vor 2001, war das häufig.) Wütendes Hundekläffen hinter dem Zaun.

In Plochingen Lastkähne auf dem Neckar, Kohlehalden, Schrotthalden am Ufer. Es ist Mittag geworden. Eine Hummel brummt verwirrt gegen die Schaufensterscheibe. Tellerantennen, alle gleich ausgerichtet.

Das Filstal hinauf. Autobrausen. Langes Gras schlägt gegen die Seitentasche des Fahrrads. Ein Bussard zieht enge Kreise über der Bundesstraße, wartet auf Unfallopfer, auf eine Maus, einen Schmetterling, einen kleinen Vogel vielleicht.

 

Verwitterte Fensterläden,
geschlossen. Die Tellerantenne
lauscht immer noch.

Reichenbach

 

In Reichenbach eine Flaumfeder frei in der Luft, zwischen Autobrausen und Hauswand.

Mittagsrast. Endlich am Brunnen, ein Schwall ins Gesicht. Auch die Biene trinkt. Glocken läuten. „Faule Kühe!“ schreie ich auf die Weide hinaus. Niemand hört hin.

Am Göppinger Hauptbahnhof ein Plakat zur Rettung der Wälder am Amazonas. Ringsum verderben die eigenen im sauren Regen.

Der Berg hat schon lange begonnen. Nun ist er mir zu steil geworden, ich schiebe das Fahrrad, ächze in das Dorf unterm Gipfel: Hohenstaufen. 683,8 Meter hoch über dem Meeresspiegel. Die Staufer wussten das nicht.

Vom Adlerbrunnen unter dem Kastanienbaum trinke ich köstliches Wasser.

Über dem Dorf beginnt der Wald und der Aufstieg zum Gipfel. Das Fahrrad lasse ich an der Kirche. Und ächze auf meinen Sohlen hinauf. Schweiß rinnt, ich weiß die Tasche nicht mehr auf welcher Seite am besten tragen, mein Schweiß lässt mich im Stich, ihn zieht es zur Erde.

Bald schaue ich über das Land. Es ist Abend geworden.

An einer Aussichtsstelle Landtafeln: Flüsse, Berge, Städte. Die Mücken sind nicht verzeichnet. Sie sind sehr nahe.

Ein Schmetterling fliegt zwischen den Schwärmen hindurch.

Im Tal dreht ein Traktor seine Runden. Ich sehe ihn nicht, höre ihn nur, besonders die Kurven.

Ein Hund sitzt am Abhang, schaut kurz ins Weite, springt dann auf, läuft zum Kiosk zurück.

Um 20:00 Uhr schließen Kiosk und Wirtschaft, nun bin ich allein.

In den Ruinen eine Feuerstelle, Holzkohle, frisch. Und Löwenzahn, zwischen Stauferfugen zu Hause.

Ich habe mich auf meine Matte ins Gras gelegt. Wind streicht mir um die Nase, Lindenzweige bewegen sich leicht über mir. Zwischen den Armen lass ich ein Loch für den Himmel, ab und zu findet ein Insekt hindurch.

Grashalme neben mir, Wolken ziehen langsam, aber der Himmel ist blau, Linde, Käfer, Fliegen, Gedanken über die alten Zeiten im Kopf, Vögel singen wie damals …

Im Tal fährt ein Auto durch die Dämmerung, ich höre es hupen, von Dorf zu Dorf, verfolge die Klangfahne seines Wegs.

Meditation in der Dämmerung. Der Lärm vom Tal gehört dazu.

Die beginnende Nacht verrät es mit ihren Lichtern: Ringsum die Burgenberge sind leer, nur ihre Dörfer gediehen.

Zwischen den Wolken taucht der erste Stern auf. Das muss Luzifer sein. Ein Glühwürmchen. Im Tal beginnt ein Konzert.

 

Ich rolle den Schlafsack ganz aus und krieche hinein. Ein Wandernachtspruch, dann versuche ich zu schlafen.

Trage mich Berg,
Linden, wacht über mich,
hütet den Traum.
Haltet mir auch
die Mücken fern.

 

In der Nacht erwache ich. Menschenstimmen: ein Liebespaar. „Das ist ein Kraftplatz“, höre ich den Mann sagen. Sie gehen bald wieder.

Die Kälte beim Erwachen am Morgen. Den Schlafsack mit klammen Fingern zusammenrollen.

 

Viele Jahre später sollte ich eine Lyrik-Sequenz über Konradin schreiben. Das letzte, das 12. Stück, handelt von dieser Nacht.

Vor Jahren war es, auf der Kuppe schlief ich,
am Abhang,
im Gras des Hohenstaufens.

Die Nacht war am tiefsten
kurz vor dem Morgen, die kälteste Stunde
war vor dem Erscheinen
der Sonne.

Die Sequenz ist düster, das ist unsere Zeit – in die hinein einer aber doch auch lachen kann.

 

Abwärts, das Fahrrad von der Kirche losketten – und auf geht es, hinein in den Morgen. Der Hohenstaufen liegt bald schon hinter mir.

Eine Katze am Straßenrand drückt sich in den Staub, verfolgt mich mit den Augen. Nach Schwäbisch Gmünd hinunter, über das Pflaster leerer Gassen, frühmorgens.

Die Stadt liegt im Remstal – die andere Seite schieb ich mein Fahrrad hinauf. Aus Wiesen steigt Dunst, vom Waldrand her tönt ein Vogel.

Geruch von Sägmehl, da liegen Bretter am Fluss. Das ist nun der Kocher. Ein Sägewerk am Ortseingang von Laufen.

Ein Stück weiter ein Lagerplatz für Baumstämme, endlos besprüht mit Wasser des Flusses. Aus der Wiese quaken Frösche.

Im Feld: Sind das Mutter und Kind? Zwei Vogelscheuchen.

Mit dem Fahrrad in Gaildorf durch das Verkehrsgewühl. Nur der Brunnen scheint fröhlich.

Hinter der Siedlung am Straßenrand ein Kreuz und Blumen, ein Schild: „Magdalena“.

Mittags laufen wir in Schwäbisch Hall ein, mein Fahrrad und ich. Andreas erwartet mich schon, lacht. Er ist Bühnenbildner am Sommertheater. Auf der großen Treppe an der Kirche wird nachher die Vorstellung sein.

 

Etwas verändert aus: Volker Friebel (2023): Mitten im Schrei. Bunte Steine. Edition Blaue Felder, Tübingen. Hier geht es zu näheren Infos, einem Blick ins Buch und Bestellmöglichkeit bei Amazon: das gedruckte Buchdas eBuch.

 

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