Dieses Geblühe

Ein Gespräch über das Haiku
zwischen Martin Berner und Volker Friebel

 

Volker Friebel: Was ist für dich ein Haiku?

Martin Berner: Für mich das Wichtigste beim Haiku sind Kürze und Prägnanz. Silbenzahl war für mich nie wichtig, höchstens dass ich 17 als obere Begrenzung sehe. Aus dem Definitionsstreit Haiku/Senryu halte ich mich heraus, seitdem ich dabei war wie der japanische Haiku-Dichter Kaneko Tota nach einer längeren Fachdiskussion feststellte, dass eigentlich der einzige sichere Unterscheidungspunkt der Gebrauch von kireji sei – ein formales Element, das wir im Deutschen ja nicht kennen.

Volker Friebel: Was für eine Bedeutung hat das Haiku für dich persönlich?

Martin Berner: Ich rede nicht gern viel. Deshalb kommt mir diese kurze Form sehr entgegen. Ich lasse mich von dem Saint-Exupéry zugeschriebenen Ausspruch leiten, dass ein Text erst dann gut ist, wenn man nichts mehr wegstreichen kann. Und es macht mir Freude, immer wieder zu versuchen, noch eine Silbe einzusparen. Mein Traum ist ein Haiku, das in zwei Worten alles sagt. Ich bin sehr froh, dass ich schon früh auf diese literarische Form gestoßen bin, weil ich mit anderen Versuchen, mich mit Worten auszudrücken nicht recht glücklich wurde.

Volker Friebel: Wie siehst du die Bedeutung von Haiku, von Lyrik, Literatur, Kunst insgesamt in der Welt?

Martin Berner: Als Mitglied des Frankfurter Haiku-Kreises und später als Vorsitzender der Deutschen Haiku-Gesellschaft habe ich viele Haiku-Dichterinnen und -Dichter aus unterschiedlichen Ländern kennen gelernt. Immer wieder habe ich gestaunt, wie es diese Mini-Literaturform schafft, Menschen über Sprachgrenzen hinweg zusammen zu bringen.

Volker Friebel: Wann und wie bist du zum Haiku gekommen, was sind dabei wichtige Stationen?

Martin Berner: Kennen gelernt habe ich Haiku im Deutschunterricht der Oberstufe – na ja, von Silben, Jahreszeitenwörtern, Nachhall, Schneidewort hat der Deutschlehrer nicht gesprochen. Er hat einfach einen komprimierten Text vorgestellt („Brunneneimers Umrankung von Windenblüte – Wasser holen beim Nachbarn“). Und das hat bei mir eingeschlagen.

Volker Friebel: Wie siehst du für dich die Rolle der japanischen Klassiker?

Martin Berner: Leider bin ich auf meiner Suche nach den Spuren des Haiku wie so viele andere bei Manfred Hausmann gelandet und habe da ein verzerrtes Bild der japanischen Klassik aufgenommen. Danach haben mich Begegnungen mit japanischen Haikudichter/innen irritiert, die, als es darum ging, den gerade erlebten Moment festzuhalten, erst einmal ihre mitgebrachten Jahreszeitenwörter-Sammlungen durchgeblättert haben. Lange war mir die Fixierung vieler Japaner auf starre Formen (besonders auch beim gemeinsamen Kasendichten) sehr fremd. Erst die kenntnisreichen und anschaulichen Vorträge, die Thomas Hemstege beim Frankfurter Haiku-Kreis gehalten hat und die Lektüre von Ekkehard Mays Shomon-Büchern hat mir einen Blick auf die Tiefen und künstlerischen Ausdrucksweisen der Klassiker eröffnet.

Volker Friebel: Gibt es Haiku-Dichter, die dich besonders interessiert und vielleicht auch beeinflusst haben?

Martin Berner: Ja, wie so viele andere Nicht-Japaner konnte ich mit Issa viel anfangen. Er hat mich dazu geführt, dass ich auch ab und zu mit Tieren spreche.

Volker Friebel: Deine Haiku sind oft knapp und herb. Schöne Bilder und Stimmungen kommen wenig vor. Oft beschäftigen deine Texte sich mit belastenden Erinnerungen oder eher unschönen vermutlich beobachteten Situationen. Zwei Beispiele:

Advent
sie wählt Sympathy for the devil
als Klingelton

(Aus Haiku-Jahrbuch 2020: Nebelland)

dieses Geblühe
er schnauzt
seinen Pitbull an

(Aus Haiku-Jahrbuch 2017: Leichte Fracht)

Offenbar inspirieren dich vor allem negative Erlebnisse oder Konflikte zu Texten. In Anthologien macht sich das gut, denn den meisten Autoren, auch mir selbst, geht es anders. Deshalb finden sich in Anthologien oft zu lange Reihungen schöner Bilder. Inspirieren dich tatsächlich eher negative Erlebnisse?

Martin Berner: Ach, das kann man so nicht sagen. Ich sehe eher, dass hinter allem Schönen auch Abgründe lauern, es aber auch in allem Leid freundliche Momente gibt. Ich bin sehr froh, dass ich in guter Gesundheit ins achte Lebensjahrzehnt eintreten konnte, weiß aber, und sehe ja rund um mich herum, wie schnell sich das ändern kann. Außerdem kaue ich immer noch an der strengen pietistischen Erziehung, mit der ich gequält wurde.

Volker Friebel: Wie hat sich das Schreiben von Haiku bei dir entwickelt? War das von Anfang so knapp wie heute?

Martin Berner: Nein. Am Anfang habe ich dreizeilige Gedichte geschrieben, ohne über die Länge der Zeilen nachzudenken. Zwar habe ich damals schon darauf geachtet, was gekürzt werden kann, ohne den Sinn zu ändern. Aber meine Fähigkeit, Dinge kürzer zu fassen, ist gewachsen. Meine Mitarbeiter/innen haben meine Kürzungsvorschläge zu ihren Texten manchmal wohl geärgert.

Volker Friebel: Wie entstehen deine Haiku? In der Situation? Oder irgendwann später, vielleicht gar ganz frei kreiert? Impressionistisch, expressionistisch?

Martin Berner: Da gibt es kein Schema. Wenn ich mit offenen Sinnen durch die Welt gehe, findet sich oft eine kleine Begebenheit, die sich einhakt und nach Bearbeitung ruft. Manchmal ist zuerst nur ein Wort da und sucht sich andere aus. Ganz selten ist ein Text gleich auf Anhieb fertig. Natürlich gibt es auch frei konstruierte Szenen, die ich dann auf ihren Realitätsgehalt überprüfen muss. Das Haiku, das beim Haiku-Preis von Haiku heute 2021 den 3. Platz belegt hat

Sommerabend
nur die Amsel
und sein Beatmungsgerät

hatte ursprünglich als letzte Zeile „und seine Morphinpumpe“. Zur Vorsicht habe ich meinen Neffen, der als Arzt mit solchen Geräten zu tun hat, gefragt, ob die Geräusche machen; das tun sie offensichtlich nicht.

Volker Friebel: Wenn deine Haiku nicht mit einem Substantiv beginnen, fängst du immer mit Kleinbuchstaben an. Warum?

Martin Berner: Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass das einzelne Haiku ein kleiner Ausschnitt aus einer unendlichen Wirklichkeit ist. Und es soll nichts mit einem Gedicht, wie wir sie von unseren Klassikern kennen, zu tun haben. Deshalb finde ich es auch ganz unpassend, wenn manchmal (heute weniger als früher) jede Zeile mit einem Großbuchstaben beginnt. Wenn ich allerdings Lied- oder Gedichtzitate verwende, beginnen die meistens groß. Ich vermeide auch wo es nur geht Satzzeichen. Selbst Fragezeichen lassen sich textlich gestalten. Ach ja, weil ich meine, das Haiku sollte in einfacher Sprache gestaltet werden, verwende ich so gut wie keine Fremdwörter. Die unsäglichen Anglizismen schon gar nicht, wobei das immer schwieriger wird bei der ausufernden Denglisierung um uns herum.

Volker Friebel: Du warst 1997 bis 2009 im Vorstand der Deutschen Haiku-Gesellschaft (DHG), seit 2003 als Vorsitzender. Das waren entscheidende Jahre. Ich erinnere mich noch an die Diskussionen zur Gesellschaft im Netz um die Jahrtausendwende. Margret Buerschaper hat sie 1988 gegründet und sehr engagiert geleitet, aber doch eher im Sinne eines Freundeskreises, eines in der Haiku-Auffassung sehr starren Freundeskreises. Im Netz gab es kaum jemanden, der im Jahr 2002 mit der Euro-Einführung auch nur einen dieser neuen Cent auf die weitere Existenz der Gesellschaft gesetzt hätte. Aber es kam anders.

Mit einem höchst lesenswerten Vortrag zog sich Margret Buerschaper Pfingsten 2003 aus dem Vorstand zurück. Im Vortrag sagt sie dazu: „Nun, nach 15 Jahren traditioneller ,Führung’ übernimmt Martin Berner, ein Verfechter des modernen Haiku, die Leitung der DHG.“ (Seite 14.) Ich war perplex. Von fast allen Vertretern des Haiku im Netz war ein langsamer Niedergang mit schließlicher Auflösung der DHG erwartet worden – und freudig, da die Gesellschaft als Hemmschuh für die Entwicklung des Haiku im Westen betrachtet wurde – und da zeigte sich völlig unerwartet die Möglichkeit eines sanften Übergangs in die Gegenwart. Wie hast du als einer der Hauptverantwortlichen diese Zeit und diese Ereignisse erlebt?

Martin Berner: Vor der Mitgliederversammlung 1997 hat Margret Buerschaper gefragt, ob ich als Schriftführer im Vorstand der DHG kandidieren möchte. Ich war sehr überrascht, weil sie ja wusste, dass ich nicht auf ihrer Linie lag. Ich denke, dass das als Würdigung der Arbeit des Frankfurter Haiku-Kreises zu verstehen ist, dessen Gründerin und langjähriger Kopf Erika Schwalm ungeheuer viel bewegt hat. Was die Haikuform angeht, haben wir in Frankfurt sowieso gemacht, was wir für richtig hielten. Margret Buerschaper wusste genau, wen sie da ins Boot holt. Bei der Vorstellung des neuen Schriftführers in der Zeitschrift hat sie mich ausführlich zitiert.

Es gab zu der Zeit einige Stimmen, die sich gegen die dogmatischen Tendenzen in der DHG gewehrt habe, sie fanden allerdings, auch bei der Mehrzahl der Mitglieder, kaum ein Echo. Ich habe mal die Vierteljahresschriften bis 2002 durchgesehen. In den „Vechtaer Texten“, in denen Haiku der Mitglieder veröffentlicht wurden, habe ich grade mal ein Dutzend Texte gefunden, die nach Form und Inhalt nicht den strengen Vorgaben entsprachen (nicht dabei berücksichtigt habe ich allerdings Texte, die eher Sinnsprüche oder Epigramme waren, davon gab es einige). Und meist sind sie nur eine Silbe kürzer als die heilige Siebzehn.

Das hängt damit zusammen, dass Margret Buerschaper bis dahin die Auswahl alleine getroffen hat. Sie wollte garantieren, dass jedes Mitglied mindestens einmal im Jahr einen eigenen Text in der Zeitschrift vorfindet. Und in der umfangreichen Sammlung fanden sich halt fast nur Texte, die damals als echte Haiku (oder zur Not Senryu) angesehen wurden.

Ich habe von Anfang an Kontakte zu Haiku-Gesellschaften in den Nachbarländern gepflegt und dort klarmachen können, dass sich in der DHG etwas bewegt. Erika Schwalm hat viele ausländische Kontakte aufgebaut, wir waren zweimal in Japan und haben dort Repräsentanten der dortigen Haikuszenen kennen gelernt. 1999 wurde ich als einer von vier nichtjapanischen Referenten zum 1. Internationalen Symposium Haiku to Unite the Globe: Prospects for the 21st Century (Haiku vereint die Welt: Ausblick auf das 21. Jahrhundert) nach Tokyo eingeladen. Ich war der einzige, der überhaupt kein Japanisch sprach, und das hat das Auditorium beeindruckt. Sie nahmen meine Teilnahme als Beweis, dass das Haiku seinen Siegeszug in die nichtjapanische Welt feiern kann.

Nachdem wir 2001 in Frankfurt einen Kongress mit viel Außenwirkung organisiert haben, war dann das Eis gebrochen. Ich wurde dort zum 2. Vorsitzenden gewählt und hatte etwas mehr Einflussmöglichkeiten.

Ein Weckruf, den auch Margret Buerschaper nicht überhören konnte, war 1997 der Austritt von Jane und Werner Reichhold, zwei in der internationalen Haikuwelt anerkannten Persönlichkeiten, den sie mit der mangelnden Offenheit der DHG für neuere Entwicklungen begründeten. Noch im gleichen Jahr rief sie die Mitglieder auf, auch „experimentelle“ Texte einzusenden. Das Echo war nicht gerade sehr ermutigend. In der Zeitschrift gab es zwar einige Hinweise auf freie Formen im japanischen Haiku, so im September 1998 einen Artikel von Kann’ichi Abe, auch englischsprachige kürzere Haiku wurden vorgestellt, aber die Anregungen wurden wenig aufgegriffen.

Das änderte sich dann 2002. Gerd Börner hat als Vorstandsmitglied viel dazu beigetragen. Nach langer Diskussion im Vorstand wurde beschlossen, dass die Texte der Mitglieder, die in der Zeitschrift veröffentlicht werden sollen, nicht mehr aus dem Archiv ausgesucht werden, sondern aktiv für jede Ausgabe von den Mitgliedern selber geschickt werden müssen. Eine Jury sollte dann die Texte auswählen. Wie zu erwarten, gab es viel böses Blut, und immer wieder wurden neue Vorschläge zum Umgang mit den Mitgliedertexten diskutiert. Ich denke, Margret Buerschaper hat erkannt, dass sich einiges ändern musste, wollte die Änderungen und die damit verbundenen Scherereien aber nicht mehr auf sich nehmen.

2003 wurde ich dann als Vorsitzender gewählt und habe viele Gespräche mit Menschen geführt, die mit Haiku zu tun hatten.

Volker Friebel: Mit Gerd Börner warst du auch bei mir, mit der Anregung, in den Vorstand der Deutschen Haiku-Gesellschaft zu kommen. Ich hab mich damit recht schwer getan und erst nach einigen Monaten Bedenkzeit zugesagt. Beeindruckt war ich aber sofort. Weniger wegen dem Angebot, das nach Arbeit roch, sondern weil ihr auch Stefan Wolfschütz angefragt habt, der (damals) für die konservative Haikusicht im deutschsprachigen Netz stand. Mit Gruppenaktivitäten tue ich mich persönlich schwer, aber dass die Zukunft der DHG nur in der Funktion einer Dachgesellschaft für die unterschiedlichen Richtungen des Haiku liegen kann, schien mir offensichtlich. Und dass ihr das bei eurer eigenen Position auf der Seite des fortschrittlichen Haiku auch so gesehen habt, fand ich sehr ermutigend. Eine bloße Veränderung der DHG in Richtung Moderne wäre weit weniger gut gewesen, als ihre Umfunktionierung zur Dachgesellschaft für alle Strömungen. Ich denke, damit habt ihr die DHG gerettet.

Martin Berner: Ja, mein Ziel war es, die DHG für verschiedene Strömungen offen zu halten und ein Klima zu schaffen, in dem auch abweichende Positionen ihren Platz hatten. Das ist glaube ich recht gut gelungen. Natürlich habe ich auch einige nicht so freundliche Briefe bekommen, aber das muss man aushalten.

Volker Friebel: Eine Krönung deiner internationalen Kontakte war die Veranstaltung des 1. Europäischen Haiku-Kongresses 2005 in Bad Nauheim. Ich erinnere mich gut, wie ich mit meinen miserablen Fremdsprachenkenntnissen ganz schüchtern am Tisch saß und höchst erstaunt und erfreut war, dass der Engländer neben mir dafür ausgezeichnet Deutsch sprach. Er hieß David Cobb. Zu hören, dass es überall in Europa Menschen gibt, die sich mit Haiku beschäftigen, und dass die Probleme dabei überall ähnlich sind, hat außerordentlich gut getan.

Martin Berner: Einen guten Anknüpfungspunkt für den ersten Europäischen Haiku-Kongress hatte David Cobb 1997 mit einer Aktion anlässlich des englischen poetry day geschaffen: Die britische Haiku-Gesellschaft hatte Haiku-Schaffende aus einigen europäischen Ländern zur Fahrt mit einem der ersten Züge durch den Ärmelkanal eingeladen. Zwei Jahre lang haben Erika Schwalm und ich an den Vorbereitungen des Kongresses gearbeitet.

Volker Friebel: Du hast auf den Frankfurter Haiku-Kreis hingewiesen. Obwohl ich selbst mal eingeladen war, dort einen Vortrag zu halten (und anschließend, wenn ich mich recht erinnere, das japanische Fernsehen für ein Interview mit Erika Schwalm anrückte), war mir, wie ich zugebe, seine enorme Wichtigkeit und die von Erika Schwalm lange nicht klar. Du warst dort dabei. Wie schätzt du selbst die Bedeutung des Frankfurter Haiku-Kreises ein?

Martin Berner: Erika war mit einer ungeheuren Energie gesegnet. Wie oft haben wir über sie geschimpft, weil sie uns ständig zu irgendetwas „ganz Wichtigem“ gedrängt hat. Aber ihr Drängen hat viele Früchte getragen.

Über die Kontakte ins Ausland habe ich schon gesprochen. Was sind wir in der Gegend herumgereist, auch in Deutschland. Erika hat im Japanischen Generalkonsulat in Frankfurt Ikebana-Arrangements gemacht, und es ist ihr tatsächlich gelungen, einen der Generalkonsuln dazu zu bringen, dass er angefangen hat, Haiku zu schreiben. So war sie, man konnte sich ihr nicht entziehen.

Volker Friebel: Sie war eine in Japan anerkannte Ikebana-Meisterin.

Martin Berner: Erika hat Ikebana in Japan gelernt, wurde zur Meisterin der Sogetsu-Schule und hat immer versucht, die beiden japanischen Künste zusammenzubringen. Bei jeder größeren Veranstaltung zum Haiku, in deren Organisation sie eingebunden war, hat sie auch Ikebana gezeigt, oft gestaltet von ihren eigenen Schülerinnen (Männer gab es da glaube ich nicht).

Volker Friebel: Wie liefen die Treffen des Frankfurter Haiku-Kreises ab?

Martin Berner: Im Januar, April, Juli und Oktober gab es Samstag nachmittags die Haikuseminare, die waren heilig, nicht eines durfte ausfallen. Bei der Gelegenheit haben wir viele, viele Haiku-Schaffende aus der ganzen Welt kennen gelernt. Ich frage mich, wie Erika in den Zeiten ohne Internet an alle diese Persönlichkeiten gekommen ist. Bis zu ihrem Tod 2005 hat sie 61 Seminare organisiert und geleitet.

Die Struktur war immer die gleiche: Erst kam ein Vortrag und im zweiten Teil wurde gemeinsam, meist zu einem vorgegebenen Thema gedichtet und die Ergebnisse von ihr vorgelesen. Leider haben wir es nach ihrem Tod nicht mehr richtig geschafft, diese Tradition am Leben zu erhalten. Ein wichtiger Kristallisationspunkt im internationalen Haikuleben ist damit weggefallen.

Volker Friebel: Krisztina Kern schrieb mir, dass der Frankfurter Haiku-Kreis am 26. Oktober 2019 mit seinem 120. Treffen gleichzeitig sein letztes hatte – mit Haiku, auf Papier geschrieben, im Freien angezündet und steigen gelassen, zum Himmel …

Wie siehst du denn die Entwicklung des übrigen deutschsprachigen Haiku?

Martin Berner: Ich bin sehr froh, dass wir über die starre Reglementierung, wie ich sie bei meinem Eintritt in die DHG wahrgenommen habe, hinweggekommen sind. Das hatte ich mir bei der Arbeit im Vorstand als Ziel gesetzt, und das ist ja gut gelungen.

Volker Friebel: Und deine Wünsche für die weitere Entwicklung des deutschsprachigen Haiku?

Martin Berner: Ach, das Haiku wird seinen Weg machen, es wird neue Ideen geben und Versuche, die gelingen und solche, die nicht sehr weit führen. Das sehen wir uns mal an.

​Zur Person

Martin Berner, geboren 1948 im schwäbischen Beutelsbach, lebt in Frankfurt am Main, Rentner, vorher als Sozialgerontologe Leiter eines Pflegeheims und Geschäftsführer einer sozialen Organisation, schreibt Haiku, mit längeren Pausen seit seiner Schulzeit, arbeitet auch mit Farbe und Tusche, vorwiegend auf Papier.

Veröffentlichungen: Cvet Srobota – Clematis Blossom- Clematisblüte, Ljubljana 2004, diverse Ausgaben im Eigenverlag.

Sechs Haiku von Martin Berner, vom Autor ausgewählt

die Schlittenbahn runter
hätte er gern Kinder
hoch nicht

dieses Blau
erzählt Sagen
aus künftigen Tagen

die Palette in der Mittagssonne
nutzen Fliegen
sich zu schminken

das Atmen des Herbstblatts
mit Buchstaben
bannen

Lindenblüte
Autohupen
Lindenblüte

warten auf den Befund
Aprikosenblütenzweig
schwingt im Wind

Sechs Haiku von Martin Berner, von Volker Friebel ausgewählt

kein Strafzettel
Herbstblätter

Schenkelhalsbruch
es ist genug gelaufen
sagt sie

dieses Geblühe
er schnauzt
seinen Pitbull an

Welt ging verloren
er legt die Zeitung weg

Bahnen schwimmen
nur Fliesen
und Fugen

diese Nachtigall
sie meint mich

​Literatur

Berner, Martin (1998): Vorwitzige Kirschblattspitze. 33 Haiku, Senryu & Co. Minimart, Frankfurt am Main.

Berner, Martin (1998): Frühling, Sommer, Herbst und anderes. 33 Haiku, Senryu & Co. Minimart, Frankfurt am Main.

Berner, Martin (1998): Vier Jahreszeiten sind nicht genug. 33 Haiku, Senryu & Co. Minimart, Frankfurt am Main.

Berner, Martin (1998): Glotz nicht so, Mond. 33 Haiku, Senryu & Co. Minimart, Frankfurt am Main.

Berner, Martin (1998): Schreib schneller, die Tage werden kürzer. 33 Haiku, Senryu & Co. Minimart, Frankfurt am Main.

Berner, Martin (2004): Cvet Srobota – Clematis Blossom – Clematisblüte. Društvo Apokalipsa, Ljubljana (Slowenien).

Berner, Martin (Hg) (2006): Erinnern an die guten Tage. Ein Buch zum Gedenken an Erika Schwalm. Minimart, Frankfurt am Main.

Berner, Martin (2020): Haiku 2020. Autorenseite auf Haiku heute, pdf-Datei. https://www.haiku-heute.de/Dateien/Autorenseite-Martin-Berner-2021b-Haiku-2020.pdf

 

Haiku von Martin Berner sind in seinen Büchern, in zahlreichen Anthologien sowie in den Haiku-Jahrbüchern 2003-2007 sowie 2015-2020 zu lesen: https://www.haiku-heute.de/jahrbuch/

Der erwähnte Vortrag (online leider nicht erhältlich): Margret Buerschaper (2003): Festrede: 15 Jahre DHG. Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft [späteres Sommergras], Nummer 62, Septemberheft, 6-14.

Die Gedächtnisseite der im Gespräch mehrfach erwähnten Erika Schwalm: https://www.haiku-heute.de/archiv/zur-erinnerung-an-erika-schwalm/

Über den im Gespräch erwähnten 1. Europäischen Haiku-Kongress wird hier berichtet:
https://www.haiku-heute.de/archiv/friebel-boerner-der-erste-europaeische-haikukongress/

Ein Gespräch über das Haiku der in diesem Gespräch erwähnten Werner Reichhold und Gerd Börner:
https://www.haiku-heute.de/archiv/reichhold-boerner-die-mathematik-des-masslosen/

 

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